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Der Ausgangspunkt: Die Keimzelle zu dem Lied "Die Nacht ist vorgedrungen" liegt anscheinend in dem Büchlein "KYRIE": Es ist die Sammlung geistlicher Lieder von Jochen Klepper, erschienen im Jahre 1938 im Eckart-Verlag Berlin-Steglitz.

 "Dem Freund aber muß ich ganz besonders dankbar sein, der mich auf Kleppers 'Kyrie' hinwies." (aus der Ansprache des Komponisten zu seinem 70sten Geburtstag am 24.10.1982).

Dieses Erstexemplar aus dem Nachlass enthält zwar mehrere Entwürfe zu Melodien, die Johannes Petzold direkt mit Bleistift auf den entsprechenden Buchseiten skizzierte, aber ausgerechnet zu den Versen "Die Nacht ist vorgedrungen" fehlt jede Andeutung eines Entwurfes. Ist die Melodie dazu erst später entstanden? Oder kann man im Gegenteil daraus schließen, dass die Melodie schon zuvor entstanden ist? Dafür spricht, dass bei den letzten beiden der vier Titel die Jahreszahl 1941 steht. Dann hätte der Komponist den Text schon vorher auf anderem Wege in die Hände bekommen und seine Erinnerung hätte ihn getrogen. Anlass zu dieser Vermutung gibt auch ein Brief von Samuel Rothenberg. Und der ist wohl auch der Freund, den der Siebzigjährige in seiner Rede meinte.

KYRIE

Folgende Melodie-Entwürfe enthält dieses Buch: Er weckt mich alle Morgen (S. 9; JP_ID 0304), Mein Gott, ich will von hinnen gehen (S. 39, JP_ID 0728), Der du die Zeit in Händen hast (S 44/45, JP_ID 0142), Die Menschenjahre dieser Erde (S. 51, JP_ID 0198).

Weihnachten Strophen 1-4
Weihnachtslied, Strophen 1-4
Weihnachten Strophe 5
Weihnachtslied, Strophe 5

 


Entwürfe: Die Melodie "Die Nacht ist vorgedrungen" ist im Jahr 1938 in Unterwürschnitz entstanden. In diesem vogtländischen Dorf arbeitete der Komponist damals als Volksschullehrer. Das ursprüngliche Manuskript fehlt - aber der Prozess der Entstehung dieser Melodie ist nachvollziehbar, weil ein Blatt erhalten ist, das die Versuche enthält, einzelne Teile der Melodie zu erfinden und einander zuzuordnen. Diese Versuche hat der Komponist 1981 noch einmal für eine Ausstellung im Berliner Reichstagsgebäude in Reinschrift zusammengestellt und einen Kommentar für die Initiatoren der Ausstellung beigefügt. Die Ausstellung wurde im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) konzipiert von Dr. Eberhard Röhm und Dr. Jörg Thierfelder (Der Katalog ist erschienen unter dem Titel der Ausstellung "Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Bilder und Texte einer Ausstellung", Calwer Verlag Stuttgart 1981; siehe auch die Veröffentlichung beider Verfasser "Juden - Christen - Deutsche; Band 4/II: 1941 - 1945", calwer taschenbibliothek, Stuttgart 2007, S. 233).

Vorderseite: Entwurf AB
Vorderseite: Entwurf AB
Rückseite: Entwurf CD
Rückseite: Entwurf CD
Reinschrift: Entwurf ABCD
Reinschrift: Entwurf ABCD
Kommentar zu den Melodie-Entwürfen
Kommentar zu den Melodie-Entwürfen
 

Drei Schriftstücke aus dem Jahr 1941: Jochen Klepper und Johannes Petzold sind sich nie begegnet. Es gibt immerhin einen kurzen Briefwechsel aus dem Jahr 1941. Das Lied "Die Nacht ist vorgedrungen" wird darin allerdings nicht erwähnt, weder vom Dichter, noch vom Komponisten. Darüberhinaus gibt es eine Postkarte von Jochen Klepper an Samuel Rothenberg, in der Klepper ihn bittet, seinen Dank an Herrn Petzold zu übermitteln.

1. Petzold an Klepper:

 Scheibenberg, Sachsen, am 26. Mai 1941
Verehrter Herr Klepper! Als Gruß zum Pfingstfest möchte ich Ihnen 5 Lieder übersenden, die ich nach Ihren Texten vertont habe. Sie werden sich vielleicht wundern, daß darunter drei Gedichte sind, die bisher noch nicht veröffentlicht wurden. Diese drei Gedichte habe ich in Abschrift von P. S. Rothenberg erhalten.
Ich darf sagen, daß ich herzlich dankbar bin für Ihre Dichtungen. Allerdings kenne ich nur das Bändchen "Kyrie". Das Gedicht "Der Herr ist nah" ist mir daraus besonders lieb. Eine Weise zum Singen ist mir leider gerade für dieses Gedicht noch nicht eingefallen. - Gegenwärtig lese ich Ihren Roman "Der Vater" und habe große Freude daran.
Wie ich von P. Rothenberg erfuhr, sind Sie beim "Militär". Ich stehe vor meiner Entlassung und bin z. Zt. beurlaubt.
Mit bestem Gruße! Ihr Johannes Petzold (Lehrer), Scheibenberg / Sa., Klingerstraße 6

Petzold an Klepper 1941
Petzold an Klepper 1941

 
Anmerkung: Das Original dieses Briefes befindet sich im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar, Nachlass Jochen Klepper. Von den fünf genannten Liedern lassen sich vier mit hoher Wahrscheinlichkeit identifizieren: Aus Kyrie 1938 stammen "Der du die Zeit in Händen hast" (JP_ID 0142) und "Die Menschenjahre dieser Erde" (JP_ID 0198). Das eine ist am 20.2.1941 entstanden, das andere am 3.3.1941, also kurze Zeit vor der Sendung an Klepper. Erst in der dritten erweiterten Auflage des Kyrie 1941, von der Klepper im folgenden Brief spricht, erscheinen die beiden nach Abschriften von Samuel Rothenberg vertonten Gedichte "Tauflied" (JP_ID 0412) und "Abendmahl der Männer" (JP_ID 0871). Das fünfte Lied ist unbekannt, da sich im Kyrie von 1941 kein zusätzliches Gedicht befindet, das von Petzold nachweislich in diesen Jahren vertont wurde. Es könnte sich aber um die Reinschrift von "Die Nacht ist vorgedrungen" handeln. Sie ist in der gleichen Weise "mit roten Linien" und auf dem gleichen Papier sorgsam ausgeführt wie das "Abendmahl der Männer". Im Inhaltsverzeichnis des Handexemplares des ersten "Kyrie" sind insgesamt 7 Titel gekennzeichnet; zusätzlich ist das "Weihnachtslied" (Die Nacht ist vorgedrungen) in Klammern gesetzt. Auch daraus kann man schließen, dass es vor den anderen Titeln vertont worden ist.

 

2. Klepper an Petzold:

28320, den 10. Juni 1941
Sehr verehrter Herr Petzold.
Das war eine große Freude, als Soldat einmal wieder einen so schönen Gruß aus so anderer Sphäre, wie ihre Vertonungen ihn bedeuten, zu erhalten! Nehmen Sie meinen herzlichsten Dank. Vom "Kyrie" erscheint jetzt eine erweiterte Neuauflage, in der die neuen Lieder enthalten sind. Wie freut es mich, nun einige von ihnen schon durch Sie vertont zu wissen. Ihren Kompositionen bin ich ja schon oft mit Freude begegnet: hauptsächlich wohl durch den Bärenreiterverlag, aber ich glaube auch, durch Nachdruck z. B. im Volkskalender des Evangelischen Presseverbandes für Schlesien.
Als Soldat geht es mir sehr, sehr gut; ganz abgesehen davon, daß ich nun schon so viel Länder sehen durfte.
Seien Sie bestens gegrüßt von Ihrem sehr ergebenen Jochen Klepper

Klepper an Petzold 1941
Klepper an Petzold 1941

Anmerkung: Das Original dieses Briefes befindet sich im Nachlass Johannes Petzold. "Die Nacht ist vorgedrungen" wird nicht erwähnt, jedoch der Bärenreiter-Verlag, der das Lied veröfffentlicht hat.

 

3. Klepper an Samuel Rothenberg:

Nikolassee, den 28 11 41
Feldpost. Obergefreiter S. Rothenberg, Kolmar/Elsaß 1./I.E.B.190
Sehr verehrter, lieber Herr Rothenberg - Unter der Post, die ich aus dem Felde nachgesandt erhielt, befand sich auch Ihr letzter Rundbrief, der meine eigenen Erfahrungen unter Kameraden weithin bestätigt, und die Sendung neuer Lieder mit meinem Tauflied. Nehmen Sie mit meinem besten Dank auch meine herzlichsten Wünsche für die Adventszeit! Ihr Jochen Klepper.
Darf ich Sie noch bitten, meinen Dank auch Herrn Petzold zu übermitteln?

Klepper an Rothenberg 1941
Klepper an Rothenberg 1941

Anmerkung: Bei dem von Jochen Klepper erwähnten Tauflied innerhalb der Sendung neuer Lieder handelt es sich offenbar um dessen Vertonung durch Johannes Petzold. Darauf bezieht sich wohl auch des Dichters Bitte, seinen Dank an den Komponisten zu übermitteln. Die Vertonung des Taufliedes Gott, Vater, du hast deinen Namen (Melodie JP_ID 0412) ist 1941 entstanden und in Rothenbergs Sammlung "Lieder einer jungen Gemeinde" erstmalig erschienen. Irrtümlich wird in vielen Veröffentlichungen - auch im Evangelischen Gesangbuch von 1993 - das Jahr 1948 als Entstehungsjahr angegeben.
Von dieser Karte ist im Nachlass Johannes Petzold eine Kopie vorhanden. Wo sich das Original befindet, ist unbekannt.

Tauflied Gott Vater
Tauflied Gott Vater (Melodie JP_ID 0412; dieser zweistimmige Satz JP 0411)

 


Erinnerungen und Erläuterungen. Hier werden 3 Briefe dokumentiert: Ein Brief des Komponisten an Vikar Bauer in Stuttgart aus dem Jahr 1974, ein anderer an Prof. Dr. Thierfelder aus dem Jahr 1981 im Zusammenhang mit der geplanten Ausstellung im Berliner Reichstagsgebäude, und ein Schreiben des Freundes Samuel Rothenberg aus dem Jahr 1982.

1. Petzold an Bauer:

DDR 59 Eisenach
Amalienstr. 1,
4.5.74

 Sehr geehrter, lieber Herr Bauer!

Was soll ich Ihnen schreiben auf Ihre Anfrage nach dem Lied "Die Nacht ist vorgedrungen"? Ich habe Sie am Telefon sehr schlecht verstanden. Im Rahmen Ihrer Arbeit über Klepper kann ja der Text dieses Liedes und erst recht die Vertonung nur eine kleine Nebenrolle spielen. Immerhin dürfte es vielleicht das meistgesungene und bekannteste Klepperlied sein.

Wie ich dazu kam, den Text zu vertonen und so zu vertonen? Die zweite Hälfte der Frage ist schnell beantwortet: Ich habe ihn so vertont, weil ich’s besser nicht konnte. Vor ein paar Jahren fand ich noch meine ersten Entwürfe zu der Melodie. Sie wichen, wie ich feststellen konnte, erheblich von der Endgestalt ab. Diese muß dann doch als ganzheitlicher Einfall plötzlich dagewesen sein. Vielleicht habe ich Kleinigkeiten daran noch zurechtgerückt. Denn ich entsinne mich, die Melodie jeder einzelnen Strophe ‚anprobiert‘ zu haben, bis sie jeder annähernd gleich gut paßte.

Doch nun zur ersten Hälfte der Frage. Wir erlebten in den 30er Jahren die Wiederentdeckung des alten Kirchenliedes. Das alte Lied war damals ‚Das neue Lied‘. (Nicht zufällig war dies der Titel des Jugendliederbuches, das man als den Vorläufer des EKG bezeichnen kann.) Diese neuerweckten alten Lieder waren alles andere als ein bloßes Bildungserlebnis, sie waren uns einigendes Band, Bekenntnis und Kraftquell in der Zeit der Bedrohung und Verfälschung unseres Glaubens in den 12 NS-Jahren. Aber wir suchten auch nach neuem, eigenem Ausdruck unseres Glaubens. In Ru(dolf) Alex(ander) Schröders Gedichtbänden, fast noch mehr in Kleppers schmalem Bändchen ‚Kyrie‘, fanden wir vieles, was in dieser Richtung lag. Was lag näher als der Wunsch, solche Verse auch singen, gemeinsam singen zu können? Klepper selbst dachte ja an die Gemeinde, wenn er seine Lieder schrieb, und stellte sich in vielen Fällen wohl vor, daß sie auf schon bekannte Weisen gesungen werden sollten. Aber nun singen Sie einmal ‚Die Nacht ist vorgedrungen‘ etwa auf die Melodie von ‚Valet will ich dir geben‘! Die neuen Texte riefen nach neuen Weisen. Ich war einer von vielen, die sich darin versuchten, übrigens auch an Texten anderer, weniger bekannter Verfasser.

Als ich 1938 (nicht 39) die Melodie zu dem Advents-Text schrieb, wußte ich nicht, daß Gerhard Schwarz ihn schon vertont hatte. Vielleicht hätte ich es sonst nicht für nötig gehalten, eine eigene zu schreiben. Der Bärenreiterverlag übernahm in den weiteren Auflagen der ‚Neuen Weihnachtslieder‘ meine Melodie anstelle der von G. Schwarz. Da sie sich schnell einbürgerte, wurde sie dann auch in das neue Gesangbuch, das EKG, aufgenommen.

In der Zeitschrift "Musik im Unterricht" (Schott, Mainz) stand in Heft 12 ein ausführlicher, wie mir scheint sehr guter Aufsatz von Heinz Antholz: "Die Nacht ist vorgedrungen (Klepper/Petzold) - Lieddidaktische Reflexionen und Analysen". Ich meine, Sie könnten dort manches gut formuliert finden, was über J. Kleppers Persönlichkeit, sein Denken und Dichten überhaupt zu sagen wäre.

Mit besten Grüßen und guten Wünschen für Ihre Arbeit bin ich
Ihr (gez. Johannes Petzold)

Brief an Vikar Bauer
Brief an Vikar Bauer

Anmerkung: Dieser Brief vom 4. Mai 1974 an den damaligen Vikar Bauer in Stuttgart enthält wesentliche Angaben des Komponisten zur Entstehung der Melodie "Die Nacht ist vorgedrungen" und zum geistigen Hintergrund seines Schaffens "in den 30er Jahren". Johannes Petzold hat den Brief mehrfach kopiert und die Kopien sorgsam aufbewahrt. Dem bisher nicht identifizierten Adressaten sei für seine damalige telefonische Anfrage, mit der er den Komponisten zu dieser Darstellung veranlaßte, gedankt!

 

2. Petzold an Thierfelder

Johannes Petzold
DDR 59 Eisenach
Amalienstr. 1
2.11.81

Sehr geehrter Herr Professor Thierfelder!
Hier kommen nun die versprochenen Stücke. Weil es doch allerlei Kleinkram ist, habe ich eine Aufstellung darüber gemacht.

Das Konzeptblatt bedurfte einer Erläuterung, die ich beigefügt habe. Sie muß nicht wörtlich übernommen werden, aber dies wäre wohl das Einfachste. (Ich setze voraus, daß es kein Problem ist, durch Ablichtung der einen Konzeptseite beide Seiten einsichtig zhu machen.)

Die beiden Lied-Reinschriften mit den roten Notenlinien muß ich 1940 oder 41 angefertigt haben. In dieser Form hatte ich die Lieder an den Dichter geschickt. Auf diese Sendung bezog sich sein Dank in dem Brief vom Juni 41.

KYRIE, 1. Auflage: Wenn ich nicht irre, hatte "Die Nacht ist..." schon in den "Geistlichen Gedichten" des Eckart-Verlags gestanden, die 1937, jedenfalls vor KYRIE, erschienen waren. Ich meine, das Gedicht von daher schon gekannt zu haben.

Das Liedblatt BRUDER  T O D  ist insofern charakteristisch für die Situation damals, als es eine ganz behelfsmäßige Vervielfältigung ist, die aber inhaltlich Wesentliches widerspiegelt. Gerh(ard) Fritzsche war ein Freund von mir. Sein Name taucht auch heute noch immer wieder einmal auf, z. B. in den Losungen der Brüdergemeine und auch in Verbindung mit Vertonungen von mir (z. B. "Dich, Schöpfer, lobt die ganze Welt" - eines meiner bekanntesten Chorlieder)! Fritzsche ist 1944 im Osten gefallen.

Wir gehörten einem Freundeskreis an, der vorwiegend von Samuel Rothenberg zusammengehalten wurde durch einen Rundbrief. Wegen des Rundbriefs wäre R(othenberg) fast vors Kriegsgericht gekommen.

Ich schicke Ihnen dies alles aufs gratewohl. Was Sie davon verwenden können, werden Sie ja selbst sehen.

Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich
Ihr (gez. Johannes Petzold)

Petzold an Thierfelder 1981
Petzold an Thierfelder 1981

 Anmerkung: Für die Ausstellung "Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz", die am 19. November 1981 im Berliner Reichstagsgebäude eröffnet wurde, stellten Jörg Thierfelder und Eberhard Röhm Material zusammen. Johannes Petzold überließ ihnen für diese Ausstellung einige Dokumente, darunter seine Entwürfe zu Kleppers "Weihnachtslied" aus dem Jahre 1938, die er noch einmal zusammenstellte und kommentierte. In diesem Begleitbrief teilt er seine Vermutung mit, er habe den Text "Die Nacht ist vorgedrungen" schon 1937 in einer Gedichtsammlung des Eckart-Verlages gefunden. Anders erscheint es in seinem Brief an Jochen Klepper aus dem Jahre 1941 (der ihm 1981 nicht vorlag, weil er sich in Kleppers Nachlass befand und keine Kopie existierte). Dort hatte er von Abschriften Samuel Rothenbergs geschrieben, die er für seine Melodien benutzt habe. Jedenfalls scheint der Komponist den Text des "Weihnachtsliedes" schon vor seiner Veröffentlichung im "Kyrie" gekannt und vertont zu haben. Die Reinschrift "mit den roten Notenlinien" ist zusammen mit einem Foto des Komponisten als Soldat dokumentiert in dem Buch von Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder "Juden-Christen-Deutsche. Band 4/II 1941-1945", Stuttgart 2007, S. 233.

3. Rothenberg an Petzold

3540 Korbach
am 4. August 1982

Lieber  J o h a n n e s !
Da ich gerade ein neues Buch über  K l e p p e r  zur Besprechung bekam, habe ich mir sein Tagebuch "Unter dem Schatten deiner Flügel" herausgeholt (das ich leider noch nie ganz durchgelesen habe (1137 Seiten).

Im Zusammenhang mit der Frage, ob Klepper ein Verhältnis zu den Weisen hatte, die Zeitgenossen zu seinen Texten machten, stieß ich einmal auf den Namen W. Tappolet. Dann aber - in der Eintragung vom 14.12.1939 - auf folgende Sätze:

Um einhalbvier erschien ein Trüpplein Studenten und Studentinnen, eine Kurrende, mir meine Lieder und alte Adventslieder zu singen: aufs schönste. Und das mir, der ich mich so nach den Liedern der Festzeit im Hause sehne! Das war eine feierliche Dämmerstunde; am strahlenden Adventskranz war's so festlich und schön: die Singenden mit der gro0en Kerze und den Notenblättern. Das Schönste: nach "Die Nacht ist vorgedrungen", "Morgen- und Abendlied" das "Gründonnerstags-Kyrie"

Vielleicht erinnerst Du Dich noch: Bereits Ende August 39 war ich eingezogen worden. Im September verschickte ich aus der Kaserne einen Rundbrief an alle Freunde, dem KRIPPE UND KREUZ beilag. Darin standen folgende Klepper-Lieder: Du Kind, zu dieser heil'gen Zeit - Die Nacht ist vorgedrungen - Sieh nicht an, was du selber bist - Ja, ich will dich tragen.

Wenn ich mich recht erinnere, habe ich das Heft direkt an Klepper geschickt. So hat er also bereits im Advent 1939 Deine Weise zu DIE NACHT IST VORGEDRUNGEN kennen gelernt. - Im Oktober 40 hat er mich darauf hingewiesen, daß "Ja, ich will euch tragen" auch noch von Fritz Werner vertont wurde. Sechs Briefe bzw. Karten von ihm habe ich noch. Die letzte stammt vom 2. November 42. Fünf Wochen später ging die Familie in den Tod...

Mehrfach erwähnt Klepper übrigens den Pfarrer Wiese und gibt Urteile über seine Predigten ab. Wiese hatte mich im Frühjahr 40 getraut - und dann im April 42 meine Erika beerdigt. Im Dezember des gleichen Jahres hielt er dann die Trauerfeier für die Klepper-Familie. Und im Sommer 42 saß ich in Freiburg am Krankenlager von Reinhold Schneider, dessen Freundschaft für Klepper so viel bedeutete.

Immer wieder muß ich über all diese Begegnungen Nachsinnen. Übrigens bedankte sich Klepper am 18.8.42 für die neue "Sendung": "Ich freue mich, daß Sie mich weiter in diesen Kameradenkreis einbeziehen. Durch / den Rundbrief werde ich an das Schönste und Beste meiner Zeit im Felde erinnert. Nach Ihrem letzten Anruf (Mai 42) habe ich oft an Sie gedacht!"

Samuel

 

Rothenberg an Petzold 1
Rothenberg an Petzold 1
Rothenberg an Petzold 2
Rothenberg an Petzold 2

Anmerkung: Der Pfarrer, Herausgeber und Autor Samuel Rothenberg bringt in diesem Brief an Johannes Petzold vom 4. August 1982 zwei Dinge zusammen: Kleppers Bemerkung in seinem Tagebuch, dass am Nachmittag des 14.12.1939 neben anderen Liedern auch "Die Nacht ist vorgedrungen" gesungen wurde - und seine eigene Erinnerung, nach der er im Herbst desselben Jahres mit dem Rundbrief auch das Heftchen "Krippe und Kreuz" an Klepper geschickt hat, das Heft, in dem sich unter Nr. 3 "Die Nacht ist vorgedrungen" in Petzolds Vertonung (Melodie und Satz für drei gemischte Stimmen) findet. Er schließt daraus, dass Klepper bereits im Advent 1939 Petzolds Vertonung des Liedes kennen gelernt habe. Vielleicht trifft das zu. Allerdings lassen zwei Beobachtungen Zweifel aufkommen. Erstens existierten zu dieser Zeit bereits mehrere Vertonungen dieses Gedichtes. So gab es die Weise von Gerhard Schwarz in der ersten Auflage der "Neuen Weihnachtslieder" bei Bärenreiter. Die eines anderen Komponisten (Gerhard Fischenbeck) fand sich in Kleppers Nachlass. Außerdem wird in dem kurzen Briefwechsel zwischen Klepper und Petzold im Jahre 1941 dieses Lied nicht erwähnt. Es sei denn, der Dichter meint mit den ihm unter anderem vom Bärenreiter Verlag schon bekannt gewordenen Vertonungungen eben auch "Die Nacht ist vorgedrungen".


Ein Manuskript. Diese Reinschrift "mit den roten Notenlinien" ist erst relativ spät nach der Entstehung des Liedes vom Komponisten angefertigt worden. In der gleichen Art hat er das Manuskript mit der - etwa 1940 entstandenen und unveröffentlicht gebliebenen - Melodie zu Kleppers "Abendmahl der Männer" gestaltet und wohl beide 1941 an den Dichter geschickt (siehe den Brief an J. Thierfelder). Klepper kannte möglicherweise das Lied "Die Nacht ist vorgedrungen" in Petzolds Vertonung schon seit 1939 durch die Vermittlung von S. Rothenberg (siehe dessen Brief aus dem Jahr 1982. Während die Melodie in diesem Manuskript mit dem Ton a beginnt (wie in den ursprüglichen Entwürfen 1938 und auch in den ersten Veröffentlichungen des Bärenreiter Verlages), steht sie in Rothenbergs Sammlung "Krippe und Kreuz" einen Ton tiefer und ist mit einem dreistimmigen Chorsatz verbunden. Diesen Anfangston hat sie in den meisten Veröffentlichungen, ob als Melodie oder in Bearbeitungen. Heute ist sie - zum Beispiel im neuen "Gotteslob" (Nr. 222) - noch einen Halbton tiefer gerutscht. 

 

Die Nacht Seite 1

Die Nacht Seite 2

Die Nacht Seite 3

 


Fühe Drucke: Die beiden frühesten Veröffentlichungen des Liedes "Die Nacht ist vorgedrungen" werden hier dokumentiert. Es handelt sich um die Bärenreiter-Ausgabe 1345, hier allerdings in einer Ausgabe ohne Jahreszahl, die aus dem Jahr 1946 stammen könnte. Klavier- und Chorausgaben (BA 1371 November 1948) folgten im gleichen Verlag, der auch bis heute die Rechte verwaltet. Ein Druck von Bärenreiter mit eindeutiger Jahreszahl aus früherer Zeit ist im Nachlass nicht zu finden. 

Im Gegensatz dazu liegt das Original von Samuel Rothenbergs Sammlung "Krippe und Kreuz" aus dem Jahr 1939 in mehreren Exemplaren vor. Wenn ich diese Hefte in den Händen halte, rührt mich die Schlichtheit des Materials, die Mühen der Gestaltung und Vervielfältigung und Versendung - und zugleich das hohe Bewusstsein und der Anspruch eines Aufbruchs mit neuen Liedern für eine erneuerte Kirche. Davon zeugen vor allem auch die Rundbriefe des Freundeskreises um Samuel Rothenberg, in deren Bereich "Krippe und Kreuz" zusammen mit den Liedblättern "Das Aufgebot. Rüstlieder einer jungen Gemeinde" oder "Lieder einer jungen Gemeinde" gehören.

Krippe und Kreuz 1939
Krippe und Kreuz 1939

 

"Vielleicht erinnerst Du Dich noch: Bereits Ende August 39 war ich eingezogen worden. Im September verschickte ich aus der Kaserne einen Rundbrief an alle Freunde, dem KRIPPE UND KREUZ beilag. Darin standen folgende Klepper-Lieder: Du Kind, zu dieser heil'gen Zeit - Die Nacht ist vorgedrungen - Sieh nicht an, was du selber bist - Ja, ich will dich tragen. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich das Heft direkt an Klepper geschickt. So hat er also bereits im Advent 1939 Deine Weise zu DIE NACHT IST VORGEDRUNGEN kennen gelernt." (aus dem Brief Samuel Rothenbergs vom 4.6.1982)

Neue WeihnachtsliederInhaltsverzeichnis
Das Inhaltsverzeichnis von BA 1345 - die Zulassung weist auf die ersten Jahre nach 1945 hin.

 

Baerenreiter


 

Melodien anderer Komponisten: Johannes Petzold war nicht der Einzige, der Kleppers "Weihnachtslied" vertont hatte. Da der Dichter ganz bewußt in seinem KYRIE nicht einfach Gedichte, sondern "Geistliche Lieder" veröffentlicht hatte, die auf den Gebrauch in der Gemeinde hin angelegt waren, machten sich sofort zahlreiche musikalisch begabte Menschen - nicht nur Kantoren - auf, Melodien zu seinen Texten zu erfinden. Zwei von diesen Versuchen befinden sich im Nachlass Petzolds. Zum einen die Melodie von Gerhard Schwarz, die in der ersten Auflage "Neue Gemeindelieder" des Bärenreiter-Verlages abgedruckt wurde, Zum anderen eine Melodie von Rudolf Zöbeley, dem Komponisten des bekannten Klepper-Liedes "Er weckt mich alle Morgen". Ich erinnere mich, in einer Ausstellung anlässlich der Wiederkehr des Todestages der Familie Klepper (wohl im Jahre 2002) darüber hinaus Kopien von weiteren Melodie-Entwürfen gesehen zu haben.

"Als ich 1938 (nicht 39) die Melodie zu dem Advents-Text schrieb, wußte ich nicht, daß Gerhard Schwarz ihn schon vertont hatte. Vielleicht hätte ich es sonst nicht für nötig gehalten, eine eigene zu schreiben. Der Bärenreiterverlag übernahm in den weiteren Auflagen der ‚Neuen Weihnachtslieder‘ meine Melodie anstelle der von G. Schwarz. Da sie sich schnell einbürgerte, wurde sie dann auch in das neue Gesangbuch, das EKG, aufgenommen." (aus dem Brief an Vikar Bauer vom 4.5.1974). - Leider fehlt auch auf dieser Ausgabe BA 1345 die Jahreszahl.

Melodie von Zoebeley
Rudolf Zöbeley: Neue Gemeindelieder nach Gedichten von Jochen Klepper, Rudolf Alexander Schröder u.a., Musikverlag Hochstein & Co., Heidelberg 1941, Seite 2

Zusammenfassende Erwägungen: Johannes Petzold hat das "Weihnachtslied" Jochen Kleppers nicht erst im KYRIE gefunden. "Wenn ich nicht irre, hatte 'Die Nacht ist...' schon in den 'Geistlichen Gedichten' des Eckart-Verlags gestanden, die 1937, jedenfalls vor KYRIE, erschienen waren. Ich meine, das Gedicht von daher schon gekannt zu haben." (aus dem Brief an Prof. Thierfelder" vom 2.11.1981). In seinem viel früheren Brief an den Dichter aus dem Jahr 1941, mit dem er ihm 5 Vertonungen sendet, findet sich eine andere Version: "Sie werden sich vielleicht wundern, daß darunter drei Gedichte sind, die bisher noch nicht veröffentlicht wurden. Diese drei Gedichte habe ich in Abschrift von P. S. Rothenberg erhalten." So seltsam es klingt: Diesen Brief hat der Verfasser nicht mehr gesehen, seit er ihn abschickte. Erst nach seinem Tod im Jahre 1986 hat der Kirchenhistoriker Dr. Harmut Ludwig ihn im Deutschen Literaturarchiv in Marbach mit dem Einverständnis der Witwe Hiltrud Petzold kopieren lassen und ihr eine Kopie übermittelt. Der Text von "Die Nacht ist vorgedrungen" könnte dem Komponisten demnach auch durch Samuel Rothenberg bekannt geworden sein. In einem Brief an Dr. Ludwig formuliert er, "daß er in seinem Heft 'Krippe + Kreuz' zum ersten Mal den Text mit dieser uns inzwischen so vertrauten Melodie veröffentlichte." (Brief von Dr. Ludwig an Hiltrud Petzold vom 18.4.1986). "Zum ersten Mal" - meint das "überhaupt erstmalig" oder speziell auf den Herausgeber bezogen?

In den "Erläuterungen" für Prof. Thierfelder wiederum ist sich der Komponist sicher, dass er die Melodie 1938 an den Bärenreiter-Verlag geschickt hat und dieser sie 1939 veröffentlichte. Im Nachlass gibt es allerdings keinen Beleg für die Zeit vor 1946.

Zurück zum KYRIE! Im Inhaltsverzeichnis der Erstausgabe aus dem Besitz von Petzold ist der Titel mit Bleistift im Klammern gesetzt. Das bedeutet: Es gab hier nichts mehr zu entwerfen, weil die Melodie schon da war. Jochen Klepper hat wohl die Reinschrift zusammen mit dem ebenso gestalteten "Abendmahl der Männer" erst 1941 erhalten. "Die beiden Lied-Reinschriften mit den roten Notenlinien muß ich 1940 oder 41 angefertigt haben. In dieser Form hatte ich die Lieder an den Dichter geschickt. Auf diese Sendung bezog sich sein Dank in dem Brief vom Juni 41." (Brief an Prof. Thierfelder, s.o.) Da handelte es sich allerdings nicht um zwei, sondern um 5 Lieder, wie im Begleitbrief des Komponisten aus dem gleichen Jahr zu lesen ist.

Ob Klepper die Melodie schon zuvor gehört hatte, nämlich im Advent 1939, wie Samuel Rothenberg in seinem Brief vom 4.8.1982 vermutet hat, muss offen bleiben. Wir wissen nicht, mit welcher Melodie "das Trüpplein Studenten und Studentinnen" (Klepper in seinem Tagebuch) den Dichter erfreut hat. Er hat zu diesem Zeitpunkt jedenfalls auch andere Melodien gekannt. Die eines anderen Komponisten (Gerhard Fischenbeck) fand sich in Kleppers Nachlass. Man muss konstatieren, dass es wohl keine spezielle Verständigung zwischen dem Dichter und dem Komponisten über dieses Lied gab. Umso erstaunlicher ist es, wie hier Melodie und Text einander entsprechen.

Die Nacht ist vorgedrungen
Neue Weihnachtslieder, Bärenreiter (1946), Seite 3

 


Die Melodie von Petzold zu Kleppers "Weihnachtslied" hat inzwischen auch Menschen dazu bewegt, ihr eigene Texte zuzuschreiben. Solche Bearbeitungen finden Sie hier:  Neue Textunterlegungen zu dieser Melodie. Bisher sind vier von ihnen bekannt geworden: ein Gebetslied um Frieden, zwei Texte für Trauerfeiern und ein Mittagsschlaflied für Kinder. Übrigens wird bei Trauerfeiern auch das Lied mit Jochen Kleppers Originaltext gesungen. Hier sind die vier Titel:

Ich bete für den Frieden (Peter Spangenberg)

Wie sollen wir es fassen (Eugen Eckert)

Wenn dich an manchen Tagen die Traurigkeit umfängt (Hanno Gerke)

Ich schließe meine Augen (Anke Held)

 

Christoph Petzold
Berlin, im Februar 2020; aktualisiert im Dezember 2022