Erinnerungen und Erläuterungen. Hier werden 3 Briefe dokumentiert: Ein Brief des Komponisten an Vikar Bauer in Stuttgart aus dem Jahr 1974, ein anderer an Prof. Dr. Thierfelder aus dem Jahr 1981 im Zusammenhang mit der geplanten Ausstellung im Berliner Reichstagsgebäude, und ein Schreiben des Freundes Samuel Rothenberg aus dem Jahr 1982.

1. Petzold an Bauer:

DDR 59 Eisenach
Amalienstr. 1,
4.5.74

 Sehr geehrter, lieber Herr Bauer!

Was soll ich Ihnen schreiben auf Ihre Anfrage nach dem Lied "Die Nacht ist vorgedrungen"? Ich habe Sie am Telefon sehr schlecht verstanden. Im Rahmen Ihrer Arbeit über Klepper kann ja der Text dieses Liedes und erst recht die Vertonung nur eine kleine Nebenrolle spielen. Immerhin dürfte es vielleicht das meistgesungene und bekannteste Klepperlied sein.

Wie ich dazu kam, den Text zu vertonen und so zu vertonen? Die zweite Hälfte der Frage ist schnell beantwortet: Ich habe ihn so vertont, weil ich’s besser nicht konnte. Vor ein paar Jahren fand ich noch meine ersten Entwürfe zu der Melodie. Sie wichen, wie ich feststellen konnte, erheblich von der Endgestalt ab. Diese muß dann doch als ganzheitlicher Einfall plötzlich dagewesen sein. Vielleicht habe ich Kleinigkeiten daran noch zurechtgerückt. Denn ich entsinne mich, die Melodie jeder einzelnen Strophe ‚anprobiert‘ zu haben, bis sie jeder annähernd gleich gut paßte.

Doch nun zur ersten Hälfte der Frage. Wir erlebten in den 30er Jahren die Wiederentdeckung des alten Kirchenliedes. Das alte Lied war damals ‚Das neue Lied‘. (Nicht zufällig war dies der Titel des Jugendliederbuches, das man als den Vorläufer des EKG bezeichnen kann.) Diese neuerweckten alten Lieder waren alles andere als ein bloßes Bildungserlebnis, sie waren uns einigendes Band, Bekenntnis und Kraftquell in der Zeit der Bedrohung und Verfälschung unseres Glaubens in den 12 NS-Jahren. Aber wir suchten auch nach neuem, eigenem Ausdruck unseres Glaubens. In Ru(dolf) Alex(ander) Schröders Gedichtbänden, fast noch mehr in Kleppers schmalem Bändchen ‚Kyrie‘, fanden wir vieles, was in dieser Richtung lag. Was lag näher als der Wunsch, solche Verse auch singen, gemeinsam singen zu können? Klepper selbst dachte ja an die Gemeinde, wenn er seine Lieder schrieb, und stellte sich in vielen Fällen wohl vor, daß sie auf schon bekannte Weisen gesungen werden sollten. Aber nun singen Sie einmal ‚Die Nacht ist vorgedrungen‘ etwa auf die Melodie von ‚Valet will ich dir geben‘! Die neuen Texte riefen nach neuen Weisen. Ich war einer von vielen, die sich darin versuchten, übrigens auch an Texten anderer, weniger bekannter Verfasser.

Als ich 1938 (nicht 39) die Melodie zu dem Advents-Text schrieb, wußte ich nicht, daß Gerhard Schwarz ihn schon vertont hatte. Vielleicht hätte ich es sonst nicht für nötig gehalten, eine eigene zu schreiben. Der Bärenreiterverlag übernahm in den weiteren Auflagen der ‚Neuen Weihnachtslieder‘ meine Melodie anstelle der von G. Schwarz. Da sie sich schnell einbürgerte, wurde sie dann auch in das neue Gesangbuch, das EKG, aufgenommen.

In der Zeitschrift "Musik im Unterricht" (Schott, Mainz) stand in Heft 12 ein ausführlicher, wie mir scheint sehr guter Aufsatz von Heinz Antholz: "Die Nacht ist vorgedrungen (Klepper/Petzold) - Lieddidaktische Reflexionen und Analysen". Ich meine, Sie könnten dort manches gut formuliert finden, was über J. Kleppers Persönlichkeit, sein Denken und Dichten überhaupt zu sagen wäre.

Mit besten Grüßen und guten Wünschen für Ihre Arbeit bin ich
Ihr (gez. Johannes Petzold)

Brief an Vikar Bauer
Brief an Vikar Bauer

Anmerkung: Dieser Brief vom 4. Mai 1974 an den damaligen Vikar Bauer in Stuttgart enthält wesentliche Angaben des Komponisten zur Entstehung der Melodie "Die Nacht ist vorgedrungen" und zum geistigen Hintergrund seines Schaffens "in den 30er Jahren". Johannes Petzold hat den Brief mehrfach kopiert und die Kopien sorgsam aufbewahrt. Dem bisher nicht identifizierten Adressaten sei für seine damalige telefonische Anfrage, mit der er den Komponisten zu dieser Darstellung veranlaßte, gedankt!

 

2. Petzold an Thierfelder

Johannes Petzold
DDR 59 Eisenach
Amalienstr. 1
2.11.81

Sehr geehrter Herr Professor Thierfelder!
Hier kommen nun die versprochenen Stücke. Weil es doch allerlei Kleinkram ist, habe ich eine Aufstellung darüber gemacht.

Das Konzeptblatt bedurfte einer Erläuterung, die ich beigefügt habe. Sie muß nicht wörtlich übernommen werden, aber dies wäre wohl das Einfachste. (Ich setze voraus, daß es kein Problem ist, durch Ablichtung der einen Konzeptseite beide Seiten einsichtig zhu machen.)

Die beiden Lied-Reinschriften mit den roten Notenlinien muß ich 1940 oder 41 angefertigt haben. In dieser Form hatte ich die Lieder an den Dichter geschickt. Auf diese Sendung bezog sich sein Dank in dem Brief vom Juni 41.

KYRIE, 1. Auflage: Wenn ich nicht irre, hatte "Die Nacht ist..." schon in den "Geistlichen Gedichten" des Eckart-Verlags gestanden, die 1937, jedenfalls vor KYRIE, erschienen waren. Ich meine, das Gedicht von daher schon gekannt zu haben.

Das Liedblatt BRUDER  T O D  ist insofern charakteristisch für die Situation damals, als es eine ganz behelfsmäßige Vervielfältigung ist, die aber inhaltlich Wesentliches widerspiegelt. Gerh(ard) Fritzsche war ein Freund von mir. Sein Name taucht auch heute noch immer wieder einmal auf, z. B. in den Losungen der Brüdergemeine und auch in Verbindung mit Vertonungen von mir (z. B. "Dich, Schöpfer, lobt die ganze Welt" - eines meiner bekanntesten Chorlieder)! Fritzsche ist 1944 im Osten gefallen.

Wir gehörten einem Freundeskreis an, der vorwiegend von Samuel Rothenberg zusammengehalten wurde durch einen Rundbrief. Wegen des Rundbriefs wäre R(othenberg) fast vors Kriegsgericht gekommen.

Ich schicke Ihnen dies alles aufs gratewohl. Was Sie davon verwenden können, werden Sie ja selbst sehen.

Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich
Ihr (gez. Johannes Petzold)

Petzold an Thierfelder 1981
Petzold an Thierfelder 1981

 Anmerkung: Für die Ausstellung "Evangelische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz", die am 19. November 1981 im Berliner Reichstagsgebäude eröffnet wurde, stellten Jörg Thierfelder und Eberhard Röhm Material zusammen. Johannes Petzold überließ ihnen für diese Ausstellung einige Dokumente, darunter seine Entwürfe zu Kleppers "Weihnachtslied" aus dem Jahre 1938, die er noch einmal zusammenstellte und kommentierte. In diesem Begleitbrief teilt er seine Vermutung mit, er habe den Text "Die Nacht ist vorgedrungen" schon 1937 in einer Gedichtsammlung des Eckart-Verlages gefunden. Anders erscheint es in seinem Brief an Jochen Klepper aus dem Jahre 1941 (der ihm 1981 nicht vorlag, weil er sich in Kleppers Nachlass befand und keine Kopie existierte). Dort hatte er von Abschriften Samuel Rothenbergs geschrieben, die er für seine Melodien benutzt habe. Jedenfalls scheint der Komponist den Text des "Weihnachtsliedes" schon vor seiner Veröffentlichung im "Kyrie" gekannt und vertont zu haben. Die Reinschrift "mit den roten Notenlinien" ist zusammen mit einem Foto des Komponisten als Soldat dokumentiert in dem Buch von Eberhard Röhm und Jörg Thierfelder "Juden-Christen-Deutsche. Band 4/II 1941-1945", Stuttgart 2007, S. 233.

3. Rothenberg an Petzold

3540 Korbach
am 4. August 1982

Lieber  J o h a n n e s !
Da ich gerade ein neues Buch über  K l e p p e r  zur Besprechung bekam, habe ich mir sein Tagebuch "Unter dem Schatten deiner Flügel" herausgeholt (das ich leider noch nie ganz durchgelesen habe (1137 Seiten).

Im Zusammenhang mit der Frage, ob Klepper ein Verhältnis zu den Weisen hatte, die Zeitgenossen zu seinen Texten machten, stieß ich einmal auf den Namen W. Tappolet. Dann aber - in der Eintragung vom 14.12.1939 - auf folgende Sätze:

Um einhalbvier erschien ein Trüpplein Studenten und Studentinnen, eine Kurrende, mir meine Lieder und alte Adventslieder zu singen: aufs schönste. Und das mir, der ich mich so nach den Liedern der Festzeit im Hause sehne! Das war eine feierliche Dämmerstunde; am strahlenden Adventskranz war's so festlich und schön: die Singenden mit der gro0en Kerze und den Notenblättern. Das Schönste: nach "Die Nacht ist vorgedrungen", "Morgen- und Abendlied" das "Gründonnerstags-Kyrie"

Vielleicht erinnerst Du Dich noch: Bereits Ende August 39 war ich eingezogen worden. Im September verschickte ich aus der Kaserne einen Rundbrief an alle Freunde, dem KRIPPE UND KREUZ beilag. Darin standen folgende Klepper-Lieder: Du Kind, zu dieser heil'gen Zeit - Die Nacht ist vorgedrungen - Sieh nicht an, was du selber bist - Ja, ich will dich tragen.

Wenn ich mich recht erinnere, habe ich das Heft direkt an Klepper geschickt. So hat er also bereits im Advent 1939 Deine Weise zu DIE NACHT IST VORGEDRUNGEN kennen gelernt. - Im Oktober 40 hat er mich darauf hingewiesen, daß "Ja, ich will euch tragen" auch noch von Fritz Werner vertont wurde. Sechs Briefe bzw. Karten von ihm habe ich noch. Die letzte stammt vom 2. November 42. Fünf Wochen später ging die Familie in den Tod...

Mehrfach erwähnt Klepper übrigens den Pfarrer Wiese und gibt Urteile über seine Predigten ab. Wiese hatte mich im Frühjahr 40 getraut - und dann im April 42 meine Erika beerdigt. Im Dezember des gleichen Jahres hielt er dann die Trauerfeier für die Klepper-Familie. Und im Sommer 42 saß ich in Freiburg am Krankenlager von Reinhold Schneider, dessen Freundschaft für Klepper so viel bedeutete.

Immer wieder muß ich über all diese Begegnungen Nachsinnen. Übrigens bedankte sich Klepper am 18.8.42 für die neue "Sendung": "Ich freue mich, daß Sie mich weiter in diesen Kameradenkreis einbeziehen. Durch / den Rundbrief werde ich an das Schönste und Beste meiner Zeit im Felde erinnert. Nach Ihrem letzten Anruf (Mai 42) habe ich oft an Sie gedacht!"

Samuel

 

Rothenberg an Petzold 1
Rothenberg an Petzold 1
Rothenberg an Petzold 2
Rothenberg an Petzold 2

Anmerkung: Der Pfarrer, Herausgeber und Autor Samuel Rothenberg bringt in diesem Brief an Johannes Petzold vom 4. August 1982 zwei Dinge zusammen: Kleppers Bemerkung in seinem Tagebuch, dass am Nachmittag des 14.12.1939 neben anderen Liedern auch "Die Nacht ist vorgedrungen" gesungen wurde - und seine eigene Erinnerung, nach der er im Herbst desselben Jahres mit dem Rundbrief auch das Heftchen "Krippe und Kreuz" an Klepper geschickt hat, das Heft, in dem sich unter Nr. 3 "Die Nacht ist vorgedrungen" in Petzolds Vertonung (Melodie und Satz für drei gemischte Stimmen) findet. Er schließt daraus, dass Klepper bereits im Advent 1939 Petzolds Vertonung des Liedes kennen gelernt habe. Vielleicht trifft das zu. Allerdings lassen zwei Beobachtungen Zweifel aufkommen. Erstens existierten zu dieser Zeit bereits mehrere Vertonungen dieses Gedichtes. So gab es die Weise von Gerhard Schwarz in der ersten Auflage der "Neuen Weihnachtslieder" bei Bärenreiter. Die eines anderen Komponisten (Gerhard Fischenbeck) fand sich in Kleppers Nachlass. Außerdem wird in dem kurzen Briefwechsel zwischen Klepper und Petzold im Jahre 1941 dieses Lied nicht erwähnt. Es sei denn, der Dichter meint mit den ihm unter anderem vom Bärenreiter Verlag schon bekannt gewordenen Vertonungungen eben auch "Die Nacht ist vorgedrungen".