Zusammenfassende Erwägungen: Johannes Petzold hat das "Weihnachtslied" Jochen Kleppers nicht erst im KYRIE gefunden. "Wenn ich nicht irre, hatte 'Die Nacht ist...' schon in den 'Geistlichen Gedichten' des Eckart-Verlags gestanden, die 1937, jedenfalls vor KYRIE, erschienen waren. Ich meine, das Gedicht von daher schon gekannt zu haben." (aus dem Brief an Prof. Thierfelder" vom 2.11.1981). In seinem viel früheren Brief an den Dichter aus dem Jahr 1941, mit dem er ihm 5 Vertonungen sendet, findet sich eine andere Version: "Sie werden sich vielleicht wundern, daß darunter drei Gedichte sind, die bisher noch nicht veröffentlicht wurden. Diese drei Gedichte habe ich in Abschrift von P. S. Rothenberg erhalten." So seltsam es klingt: Diesen Brief hat der Verfasser nicht mehr gesehen, seit er ihn abschickte. Erst nach seinem Tod im Jahre 1986 hat der Kirchenhistoriker Dr. Harmut Ludwig ihn im Deutschen Literaturarchiv in Marbach mit dem Einverständnis der Witwe Hiltrud Petzold kopieren lassen und ihr eine Kopie übermittelt. Der Text von "Die Nacht ist vorgedrungen" könnte dem Komponisten demnach auch durch Samuel Rothenberg bekannt geworden sein. In einem Brief an Dr. Ludwig formuliert er, "daß er in seinem Heft 'Krippe + Kreuz' zum ersten Mal den Text mit dieser uns inzwischen so vertrauten Melodie veröffentlichte." (Brief von Dr. Ludwig an Hiltrud Petzold vom 18.4.1986). "Zum ersten Mal" - meint das "überhaupt erstmalig" oder speziell auf den Herausgeber bezogen?

In den "Erläuterungen" für Prof. Thierfelder wiederum ist sich der Komponist sicher, dass er die Melodie 1938 an den Bärenreiter-Verlag geschickt hat und dieser sie 1939 veröffentlichte. Im Nachlass gibt es allerdings keinen Beleg für die Zeit vor 1946.

Zurück zum KYRIE! Im Inhaltsverzeichnis der Erstausgabe aus dem Besitz von Petzold ist der Titel mit Bleistift im Klammern gesetzt. Das bedeutet: Es gab hier nichts mehr zu entwerfen, weil die Melodie schon da war. Jochen Klepper hat wohl die Reinschrift zusammen mit dem ebenso gestalteten "Abendmahl der Männer" erst 1941 erhalten. "Die beiden Lied-Reinschriften mit den roten Notenlinien muß ich 1940 oder 41 angefertigt haben. In dieser Form hatte ich die Lieder an den Dichter geschickt. Auf diese Sendung bezog sich sein Dank in dem Brief vom Juni 41." (Brief an Prof. Thierfelder, s.o.) Da handelte es sich allerdings nicht um zwei, sondern um 5 Lieder, wie im Begleitbrief des Komponisten aus dem gleichen Jahr zu lesen ist.

Ob Klepper die Melodie schon zuvor gehört hatte, nämlich im Advent 1939, wie Samuel Rothenberg in seinem Brief vom 4.8.1982 vermutet hat, muss offen bleiben. Wir wissen nicht, mit welcher Melodie "das Trüpplein Studenten und Studentinnen" (Klepper in seinem Tagebuch) den Dichter erfreut hat. Er hat zu diesem Zeitpunkt jedenfalls auch andere Melodien gekannt. Die eines anderen Komponisten (Gerhard Fischenbeck) fand sich in Kleppers Nachlass. Man muss konstatieren, dass es wohl keine spezielle Verständigung zwischen dem Dichter und dem Komponisten über dieses Lied gab. Umso erstaunlicher ist es, wie hier Melodie und Text einander entsprechen.

Die Nacht ist vorgedrungen
Neue Weihnachtslieder, Bärenreiter (1946), Seite 3