Und doch können wir der Singbewegung, die nun auch schon ein Stück Geschichte ist, gar nicht dankbar genug sein, dass sie uns gezeigt hat: Alles Singen, alles Musikmachen ist eine Angelegenheit des ganzen Menschen, nicht nur seines Gehörs, seiner Stimme, seiner Instrumentaltechnik. So wollen wir nicht fragen: Welches ist der „richtige“ Stil für unsere kirchliche Musik; wie muss ich meine Musik als Kantor betreiben (nachschaffend, improvisierend oder komponierend), damit sie stilistisch möglichst unanfechtbar ist? Sondern:
In erster Linie sind wir selbst gefragt, ob wir richtige Kantoren sind. Das ist nun freilich beinahe eine Beichtfrage, denn wer kann von sich sagen, dass er ein rechter Kantor sei? Andererseits liegt etwas Befreiendes in dieser Blickrichtung nach innen – und nach oben. Denn wenn mich diese Frage trifft, dann nimmt sie mich heraus aus allem menschlichen Eifern und Urteilen und stellt mich einzig und allein vor Gott. Macht mich der Blick auf die Menschen unsicher und schwankend oder aber doktrinär und fanatisch, so macht der Blick auf Gott mich dazu frei, ich selbst zu sein – und den andern sein zu lassen, wer er nach Gottes Willen ist. Ich weiß dann, dass ich als Kantor auch ein Diener Gottes bin, nicht Diener unmittelbar am Wort, aber „Diener am Cantus firmus". Das heißt Diener an Ton und Wort des Liedes, das heißt aber auch Diener der Gemeinde, Diener unserer Chöre. Dass dieses Dienen oft die Pflicht zur Führung einschließt, versteht sich am Rande. Von hier aus wird meine Freiheit als Musiker der Kirche deutlich: „Alles ist euer": traditioneller Stil, freie Tonalität, 12-Ton-Technik, „alles ist euer“ –; „ihr aber seid Christi", und diese Bindung als das notwendige Korrelat zur Freiheit heißt für mich als Kirchenmusiker: Bindung an das Wort, an die Liturgie im weitesten Sinne, und Bindung an den Bruder, wobei das musikalisch völlig ungeschulte und unerzogene Gemeindeglied ebenso mein Bruder ist wie der berühmte Kollege, der vielleicht eine so „tolle" Kirchenmusik schreibt, dass ich daran Anstoß nehmen möchte.