• Eine gute Liedweise ist ein eigenständiges melodisches Gebilde.
    Das heißt: Sie ist auch ohne stützende Begleitung sinnvoll und singbar, sie kann für sich allein existieren. Das bedeutet mehr als bloße Singbarkeit, es schließt diese jedoch ein. (Eine gute Melodie kann einfach und einprägsam sein. Aber „eingängig“ ist wahrlich nicht immer auch „gut“; und viele gute Liedweisen erschließen sich erst dem liebevollen Umgang mit ihnen.)
    Beispiele aus dem EKG für eigenständige Melodik:
    Vergleichen Sie „Erschienen ist…“ (80) mit „Auf, auf, mein Herz…“ und Jesus lebt…“ (86 und 89). 80 ist eine eigenständige Melodie. Die beiden anderen kommen ohne deutende und tragende Harmonisierung kaum aus. Es sind deswegen noch längst keine „schlechten“ Melodien, aber 80 ist, als Melodie, besser. EKG 53 („Jesus ist kommen…“) lässt die Abhängigkeit von der Harmonik noch deutlicher erkennen, aber gerade weil die Melodie hier die (gebrochenen) Akkorde selbst in ihrer musikalischen Substanz mit einbezieht (T, D, D7) und sie der schwungvollen Gesamtgestalt dienstbar macht, ist sie besser singbar als die beiden anderen.

    Die bis etwa 1650 entstandenen Weisen des EKGs sind mit ganz wenigen Ausnahmen (etwa 224 „Kommt her…“) offensichtlich als selbständige Melodien konzipiert. Viele von ihnen sind als melodischen Gebilde so schön, dass man jede Begleitung als überflüssig oder gar als störenden Ballast empfinden kann. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts an macht sich der Einfluss des Generalbasses, des „Generals Bass“, zunehmend bemerkbar. (Nicht mehr die Kantorei, sondern die Orgel übernimmt die Führung des Gemeindegesanges.)
    Die Melodien geraten unter die Herrschaft der Funktionsharmonik. Sie bewahren aber zumeist doch ein mehr oder weniger hohes Maß an melodischem Eigenleben. Melodisches Eigenleben äußert sich einem ausgewogenen Verhältnis von „Schritten“ und „Sprüngen“ und in der bogenförmigen Anlage der melodischen Bauglieder und des Melodie-Ganzen. („O Heiland, reiß…“, „Wie schön leuchtet…“, „Ist Gott für mich…“, Lobe den Herren…“, „Wir glauben Gott…“) Die Mehrzahl der Melodien unseres Gesangbuches ist einstimmig ohne Begleitung singbar.

    Konrad Bräutigam, Gotha, teilt mir ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer mit über das einstimmige Singen: „Unser Lied auf Erden ist Rede. Es ist gesungenes Wort… Alle Andacht, alle Sammlung gilt dem Worte im Lied. So steht das Musikalische ganz im Dienst des Wortes. – Weil ganz ans Wort gebunden, darum ist das gottesdienstliche Lied der Gemeinde …wesentlich einstimmiges Lied. Hier verbinden sich Wort und Ton in einzigartiger Weise. Der freischwebende Ton des einstimmigen Gesanges hat seinen einzigen und wesentlichen inneren Halt an dem Wort, das gesungen wird, und bedarf darum keiner musikalischen Stützung durch weitere Stimmen. – Die Reinheit des einstimmigen Singens, …die Klarheit, …die Schlichtheit und Nüchternheit …dieses Singens ist das Wesen des …Gemeindegesanges überhaupt. Freilich erschließt es sich unserem verbildeten Ohr nur langsam und in geduldiger Übung.“[3]

    Es spricht gegen die Qualität vieler neu entstandener und immer wieder neu entstehender Jugendlied-Melodien, dass diese – von der Gitarre her konzipiert – in ihrer Ausführung durch die Gemeinde von entsprechender Begleitung fast vollständig abhängig sind. Und die viel gerühmte Begeisterung der Jugend für das rhythmische Element ist vorwiegend passiver Art: Man lässt sich mitreißen, aber man ist kaum in der Lage, die „heißen Rhythmen“ richtig zu singen. Sie werden abgeflacht; die lautstarke Begleitung deckt den Mangel. Die eigentliche melodische Substanz ist meist beschämend dürftig.