I. M a ß s t ä b e

 

  1. Eine gute Melodie, und sei sie noch so einfach, ist ein kleines Kunstwerk.
    Mindestens zwei Merkmale weist jedes Kunstwerk auf, gleichviel aus welchem Bereich und von welcher Ausdehnung:
    „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ und
    „Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile“.
    (Einheit in der Mannigfaltigkeit: Hier berühren sich Kunst und Natur aufs engste. Die gesamte Evolution: ein einziges riesiges „Thema mit Variationen“! Und hier ist wohl das Ganze mehr als die Summe der Teile.)
    Wo es sich um Musik handelt, haben wir es immer mit drei Elementen zu tun, wobei eins oder zwei dieser Elemente dominieren können. Aber immer sind alle drei gegenwärtig:
    L i n i e  –   H a r m o n i e  –  R h y t h m u s. (Auch eine gregorianische Weise ist nicht nur Linie: den Rhythmus empfängt sie weitgehend aus der Sprache, und harmonische Beziehungen stellen sich zwischen nacheinander erklingenden Tönen ein.)
    Die linearen Elemente (die melodischen im engeren Sinne), die harmonischen (auch wenn nur unterschwellig spürbar) und die rhythmischen müssen in sich und im Verhältnis zueinander ausgewogen sein, sodass ein sinnvoller und sinnenhaft erlebbarer  S p a n n u n g s a b l a u f  (Hinweis: Unser Wort „Ton“ kommt vom griechischen tonos, was soviel wie Spannung bedeutet, z. B. in „Hyper-tonie“.)
    Ein vollendetes Beispiel für ein wahrhaftes Kunstwerk im kleinen aus dem Bereich des Volksliedes (aber wahrlich nicht das einzige) ist das Weihnachtslied „Was soll das bedeuten“. Alexander Sydow gibt in seinem 1962 bei Vandenhoeck und Ruprecht erschienenen Buch „Das Lied. Ursprung, Wesen und Wandel“ eine ausführliche Analyse dieser Melodie. (Im Referat wurde diese nachvollzogen. Aber jeder kann sie unter den angegebenen Gesichtspunkten auch selbst vornehmen.) (Sehr hilfreich für die Analyse von Melodien – von der Gregorianik bis zur Moderne – ist auch Hindemiths Melodielehre innerhalb seiner „Unterweisung im Tonsatz“.)