Kürzlich war in einer Zeitschrift zu lesen: Ein Theorielehrer für Musik stellte auf einer Tagung die These auf, man könne heute zwar sagen, was Musik sei, aber nicht, was Kirchenmusik sei. Ein Junger Komponist versuchte darauf am folgenden Tage in einem improvisierten Vortrag nachzuweisen, dass man heute zwar nicht wisse, was Musik sei, aber immerhin, was Kirchenmusik sei.
Nun, je weniger eine Sache ihrer Natur nach geeignet ist, mit mathematischen Formeln beschrieben zu werden – und sowohl die Kirche wie die Musik gehören zu diesen heiklen Gegenständen –, desto weiter können die Meinungen darüber auseinandergehen, desto trefflicher lässt sich, auch bei verwandten Anschauungen, aneinander vorbeireden.
Der Schreiber dieser Zeilen hat an einer Akademie-Tagung „Warum musica sacra?" teilgenommen. Der Titel war vielleicht nicht ganz glücklich gewählt, weil im Ernst ja doch wohl niemand, der sich zur Kirche hält, die Existenzberechtigung kirchlicher Musik bestreiten wird. (Fragwürdig ist allenfalls die Bezeichnung "heilige Musik" als solche.) Auf dieser Tagung ging es, ein wenig zu einseitig, eigentlich nur um die Kirchenmusik unserer schwarzen Glaubensbrüder in Nordamerika, um die sogenannten Negro-Spirituals. Diese geistliche Volksmusik vereinigt negerische Elemente (Prinzip des Vorsängers und des Chorus, bildhafte Eindringlichkeit der Texte, Vorherrschen des rhythmischen Elements, Verwendung bestimmter Nebentöne in der Melodik) mit Stilmitteln der europäischen Marsch- und Liedmusik des vorigen Jahrhunderts (einfache, zuweilen weichliche Harmonik, vorwiegend harmonisch bestimmte Melodik). Die Negro-Spirituals sind oft mitten aus dem Gottesdienst heraus improvisierend entstanden und werden immer wieder vom unmittelbaren Erleben her und je nach den vorhandenen stimmlichen und instrumentalen Mitteln neu gestaltet. Der singende schwarze Christ hält nicht das Gesangbuch in der Hand, das braucht er nicht, weil er sie kennt oder sie im Augenblick, als Gemeinschaftsleistung, neu schafft; er könnte es auch nicht, da er mit seinem ganzen Körper Anteil nimmt am Gesang und ihn oft durch Klatschen begleitet. In den Negro-Spirituals haben wir auch eine der Wurzeln des Jazz vor uns.
Mit dieser Kunst als einem Glaubenszeugnis hatte der Vortragende, der junge Theologe Theodor Lehmann aus Halle, die Teilnehmer der Tagung bekannt machen wollen. Leider hat im weiteren Verlauf der Tagung der Eindruck entstehen können, unsere Kirchenmusik sei eine sterile, konservative Sache und bedürfe nun endlich "neuer", besonders rhythmischer Impulse. Der Berichterstatter der Tagung (Thüringer Tageblatt vom 25.11.59) hat diese vermeintliche Verlegenheit der heutigen Kirchenmusik aufgegriffen, ihr – offenbar vom Standpunkt der seriellen (12-Ton-) Musik aus – den Vorwurf völliger Rückständigkeit gemacht, um ihr dann einerseits im Sinne der Tagungsveranstalter die Beschäftigung mit den – ja nun wirklich nicht „12-tönigen – Negro-Spirituals zu empfehlen, anderseits aber ihr den Vorschlag zu machen, zunächst einmal ganz zu schweigen; es genüge ein gehobenes, eventuell chorisches Sprechen mit musikalischer Begleitung. Wir können hier die Gedanken dieses Aufsatzes, der eigentlich kein Bericht war und es auch nicht sein wollte, nicht übergehen.
Was den Ruf nach einer neuen Kirchenmusik anbetrifft, so kommt dieser fast 50 Jahre zu spät. Aus jeder Darstellung der Musik unserer Zeit, ganz gleich, von welchem Standort aus sie geschieht, wird deutlich, dass seit 20 bis 50 Jahren die Kirchenmusik aus der Schmalspur-Existenz, die sie im 19.Jahrhundert innehatte, herausgetreten ist und in vielfältigster Weise Anteil hat an der Entwicklung einer neuen Tonsprache, einer neuen Musikgesinnung. Distler, David, Pepping gehören zur neuen europäischen Musik, haben ihr Bild mitgeprägt und prägen es noch (Reda, Bornefeld, Driessler, Burkhard, Messiaen). Wer die Modernität – wenn dies überhaupt ein Kriterium ist – dieser Musiker bestreitet, muss auch Hindemith und Strawinsky zum alten Eisen werfen. Insbesondere auf dem Gebiet der Vokalmusik hat die Kirchenmusik ein Gesamt-Opus von einer Breite und Höhe aufzuweisen, das die weltliche Chormusik noch immer in den Schatten stellt. An geistlicher Musik hohen Ranges fehlt es unserem Jahrhundert wirklich nicht. Und dabei hat diese Musik ihren festen Ort in der menschlichen Gesellschaft; sie kommt aus der Mitte des gottesdienstlichen Geschehens, und sie wendet sich nicht an ein anonymes Publikum sondern an eine Gemeinde! (Wieviel neue Musik hat nicht mal Publikum; und was das Publikum packt, ist meist keine "neue Musik"! So war wohl auch die eingangs zitierte Behauptung gemeint, dass zwar die Kirchenmusik heute trotz aller Mannigfaltigkeit ihr Gesicht hat, nicht aber die weltliche Musik. Der erwähnte Komponist war der 29-jährige Heinz-Werner Zimmermann, der in seinem vielbeachteten Motettenschaffen Elemente des Jazz für die Kirchenmusik fruchtbar macht.)
Mit alledem soll nicht gesagt werden, es sei bei uns alles in bester Ordnung. Der Hinweis auf die kirchliche Orgel-, a capella- und Oratorien-Musik war notwendig gegenüber dem Vorwurf der Rückständigkeit. Aber wie steht es um den Gesang der Gemeinde, wie steht es um das neue Lied der Kirche? Hier wird deutlich, wie im Singen der Kirche sich nur äußern kann, was sie selbst bewegt. Wo Kirche in Bewegung ist, da ist sie auch singende Kirche. Dass dabei wiederum das Singen selbst zu einer nachhaltigen mit-bewegenden Kraft werden kann, lehrt nicht nur das Beispiel der Reformation, sondern auch der sogenannten Singbewegung. Es würde zu weit führen, die Geschichte der Singbewegung und ihre Bedeutung für die Kirche zu erörtern. Zusammenfassend sei gesagt, dass es in erster Linie ihrer Breiten- und Tiefenwirkung zu verdanken ist, wenn heute in der evangelischen Kirche wesentlich besser (und Besseres!) gesungen wird als vor 55 Jahren. Wir haben das neue Gesangbuch; es ist zum Gesangbuch der Gemeinde geworden in fast allen Landeskirchen, wir haben vielerorts recht lebendig singende Gemeinden – nicht nur auf den Kirchentagen, aber eben gerade auch dort! –, unsere Kirchenchöre haben sich abgewendet vom Liedertafelstil der Kirchengesangvereine, sie singen mit Selbstverständlichkeit Schütz, Praetorius, Vulpius, Buxtehude und – je nach dem Maß ihres Könnens – auch zeitgenössische Kirchenmusik. Aber es will uns oft scheinen, dass zwar die äußeren Ziele erreicht sind, aber der Geist nicht mehr da ist, wobei wir getrost das Wort auch in seinem biblischen Sinne verstehen dürfen. Auch das neue Kirchenlied will von oben her gewirkt sein, es kann nicht am Schreibtisch erdacht werden. So haben wir in jener Zeit des Aufbruchs der neuen Kirchenmusik und der Singbewegung auch – zum ersten Male seit Generationen – wieder neue Kirchenlieder bekommen (Klepper, Schröder), aber „die Hoffnungen auf einen allgemeinen Liederfrühling der Kirche haben sich bis heute noch nicht erfüllt” (Söhngen). Diesen Mangel spüren wir zunehmend. Wer, als Pfarrer oder Kantor, Sonntag für Sonntag die Liederauswahl für den Gottesdienst zu besorgen hat (und dies nicht nur so nebenbei tut), der ist oft in rechter Verlegenheit. Wieviel Anstöße bietet die altertümliche Sprache einer großen Zahl von Liedern! Und für manche Bereiche christlichen Denkens und Lebens, die uns heute wichtig sind, finden wir fast gar keine Möglichkeit zu gemeinsamer, gesungener Aussage. Damit hängt es wohl auch zusammen, dass unser Kirchenlied wenig werbende Kraft hat. Was eigens zu diesem missionarischen Zwecke geschaffen wird, hat diese Kraft oft erst recht nicht oder erschöpft sich in äußerlicher Wirkung.
Kann uns in dieser Lage die Begegnung mit den Negro-Spirituals hilfreich sein? Damit kämen wir zum eigentlichen Anliegen der damaligen Akademie-Tagung. Ohne Zweifel wird uns hier ein Spiegel vorgehalten. Wir sehen, nicht ohne Beschämung, wie ganz-menschlich sich der Glaube einfacher Menschen singend äußern kann, aber eben: einfacher Menschen, wie wir sie nicht mehr sind. Damit aber dieses Glaubenszeugnis wiederum Glauben wecken kann, bedarf es einer erläuternden Interpretation. Sonst wird der Text überhaupt nicht und die Musik falsch, nämlich mehr oder weniger als bloße Tanzmusik, verstanden. Aber gerade hier liegt ein Anknüpfungspunkt, besonders für die Jugend.
Der Landesjugendmusikwart einer süddeutschen evangelischen Kirche berichtete kürzlich auf einer Tagung von seiner Arbeit. Er setzt dort ein, wo das Interesse vieler Jugendlicher heute liegt: beim Jazz. Er zeigt, wie dieser Musikstil als künstlerische Antwort einer unterdrückten Volksgruppe entstanden ist aus Volksgesang (Blues) und geistlichem Lied (Spiritual). Aber er bleibt dabei nicht stehen. Er erreicht es, dass die jungen Menschen auch unsere eigenen Volks- und Kirchenlieder neu für sich entdecken, und zwar vorwiegend vom Rhythmischen her, er führt sie heran an oft verblüffende Möglichkeiten einfachsten mehrstimmigen Improvisierens im Choralsingen (wobei die älteren Melodien unseres Gesangbuches sich oft als die vitalsten und musikalisch fruchtbarsten erweisen), er schlägt Brücken vom Jazz hin zur eigentlichen modernen Musik, etwa zu Hindemith oder Bartok. (Nebenbei: Das Wort „modern" sollte man in solchen Diskussionen möglichst streichen. Es ist zu missverständlich. Für den Musiker ist moderne Musik neue Musik im Gegensatz zur klassischen und romantischen bis Richard Strauß und Max Reger; der Laie aber, besonders der jugendliche, nennt modern eigentlich jede tanzbare Musik, die Schlagzeug, Trompete, Saxophon verwendet, vom echten Jazz bis hin zur Schlagermusik, und vieles davon ist im Grunde sehr konservativ, trotz der modischen Klangmittel.)
Wo die Begegnung mit dem andersartigen Glaubensausdruck hinführt zu ähnlich ursprünglicher musikalischer Lebens- und Glaubensäußerung eigener Art, da hat sie ihren Zweck erfüllt. Bleibt es bei einem passiven Aufnehmen, so kann das zu argen Geschmacks-Verbiegungen führen. Wir möchten nicht, dass unsere Gemeinden und Chöre in der Art der Neger singen; für unser Empfinden ist lautstarke und rauschhafte Steigerung nicht gleichbedeutend mit Glaubenskraft. Mit Übersetzung und Nachahmung ist uns nicht gedient. Und wo wir Neues schaffen wollen an geistlichen Liedern, genügt es nicht, dass wir den alten Vokabeln ein paar neue hinzufügen und in den Melodien ein paar Synkopen anbringen. Beispielhaft kann uns sein an den Negro-Spirituals die Bildhaftigkeit der Sprache, die Hinwendung zum Menschen in seinem Alltag, die aufgelockerte, einprägsame Form. Aber nur aus neu erlebtem Glauben, aus echter Liebe zu Gott und dem Nächsten und in ehrfürchtigem Umgang mit dem „Material“ der Worte und der Töne kann das neue Lied der Kirche erwachsen – wann, wo und wie es Gott gefällt.
(Es sei noch hingewiesen auf zwei Veröffentlichungen zu unserem Themenkreis: auf den Sammelband „Kirchenmusik heute“ mit einem besonders lesenswerten Aufsatz von Söhngen (Union Verlag Berlin), und auf das in unserer Weimarer Stadtbücherei [Musikbibliothek] erhältliche Buch von Twittenhoff „Jugend und Jazz“)
Johannes Petzold
Quelle: Typoskript ET 94 im Nachlass; der Artikel wurde teilweise veröffentlicht im Thüringer Tageblatt Nr. 297 vom 22. Dezember 1959 unter der Überschrift: „Noch einmal: Um die Zukunft der Kirchenmusik“ als Antwort auf einen vorhergehenden Artikel von Reiner Dennewitz; beide Zeitungsartikel sind im Nachlass vorhanden.