Hören Sie sich diese wunderbare Musik an:
Tonbeispiel 1
Das sind die ersten Takte der Symphonie Nr. 2 von Charles Ives. Sie können auch den gesamten ersten Satz Andante moderato hören (6:16 Minuten):
Tonbeispiel 2 Andante moderato
Immer wieder variiert der Komponist dieses erste Thema, und auch im vierten Satz seiner Symphonie kehrt es wieder. Als ich vor einigen Jahren dieses Werk zum ersten Mal hörte, staunte ich nicht schlecht: Das klingt doch wie:
Tonbeispiel 3
Ja, dies hier sind die ersten Töne der Melodie "Die Nacht ist vorgedrungen". Die Ähnlichkeit ist frappierend. Ich war nicht nur erstaunt, sondern beunruhigt. Hat mein Vater die Melodie bewußt oder unbewußt übernommen? Zweifellos stimmen die ersten 9 Töne des amerikanischen Komponisten Charles Ives mit den ersten 10 Tönen der Melodie von Johannes Petzold überein. Das sieht man auch am Notenbild:
Aber nicht nur die Töne stimmen überein - auch der Rhythmus ist verwandt, jedenfalls solange, bis sich die Melodien trennen und jede ihren eigenen Weg geht.
Tonbeispiel 4 (Andante Klavier)
Tonbeispiel 5 (Die Nacht Klavier)
Wer hat hier was von wem übernommen? Die Antwort ist einfach: Keiner hat die Melodie des anderen gekannt. Die Übereinstimmung ist rein zufällig. Das legt zunächst die Historie der beiden Werke nahe. Aber es gibt ein Problem.
Charles Ives' zweite Symphonie ist in der Zeit zwischen 1900 und 1902 entstanden, die Uraufführung erfolgte jedoch erst 1951 durch Leonard Bernstein mit den New Yorker Philharmonikern. Johannes Petzold hat die Melodie zu Jochen Kleppers "Weihnachtslied" 1938 komponiert, und im folgenden Jahr wurde sie veröffentlicht. Er kann die Symphonie von Charles Ives nicht gekannt haben, da sie zwar früher komponiert, aber erst viel später uraufgeführt wurde. Insofern ist die Lage klar.
Kompliziert wird sie allerdings dadurch, dass der amerikanische Komponist in dieser Symphonie viele einheimische Melodien verwendet. Könnte es sein, dass der Beginn der Melodie "Die Nacht ist vorgedrungen" ein älteres amerikanisches Lied zitiert - ohne dass dies dem Komponisten bewusst gewesen wäre? Schon im Booklet zur CD mit Leonard Bernsteins Interpretation der Symphonie Nr. 2 und anderer Kompositionen von Charles Ives hatte ich die Anregung gefunden, es könnte sich bei der von ihm verwendeten Melodie um Stephen Fosters "Massa's in de Cold Ground" handeln. Also hörte ich mir dieses Stück in verschiedenen Versionen an - und fand nichts, was mich irgendwie an die gefragte Tonfolge erinnert hätte. Ich stand vor einem Rätsel und suchte Hilfe. Ich fand sie bei dem Musikwissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Rathert aus München. Er wies mich hin auf das Buch von J. Peter Burkholder: "All Made of Tunes. Charles Ives and the Uses of Musical Borrowing", Yale University Press New Haven & London, 1995. Im Folgenden beziehe ich mich auf einschlägige Seiten dieses Werkes; seiner Spur bin ich gefolgt. Ich tue es als musikwissenschaftlicher Laie; zugleich verzichte ich aus urheberrechtlichen Gründen auf die Übernahme seiner einleuchtenden Notenbeispiele und versuche zu beschreiben, was ich aus ihnen gelernt habe.
Wenn Sie mögen, hören Sie sich zunächst in einer YouTube-Version "Massa's in de Cold Ground" an. Ich habe diese Version des bekannten Titels ausgewählt, weil man beim Hören der rührend brüchigen Stimme des Sängers zugleich den Text verfolgen kann. Bei den Worten des Chorus "Down in de cornfield Hear dat mournful sound" bewegt sich die Melodie nach unten. Die gleiche Bewegung einer absteigenden Tonfolge mit sequenzartig beginnender Forsetzung gibt es im ersten Satz der zweiten Symphonie von Charles Ives, allerdings in rascherem Tempo und mit variierenden Wiederholungen. Sie können es in den Tonbeispielen 1 und 2 noch einmal nachprüfen. Amerikanische Musikwissenschaftler haben herausgefunden, dass es sich klar um ein Zitat des Melodieausschnitts „Down in de cornfield …“ aus Stephen Fosters Minstrel Song "Massa's in de Cold Ground" handelt. Ives verwendet es nicht nur im ersten Satz seiner zweiten Symphonie, sondern auch im letzten, und dort ist es noch deutlicher zu hören.
Und nun kommt das Besondere: Das Thema, das den ersten Satz der Symphonie bestimmt, passt nicht nur wunderbar zu dieser Tonfolge. Von Anfang an den Eröffnungssatz dominierend und scheinbar von ihr unabhängig, ist das Thema in Wirklichkeit motivisch aus ihr abgeleitet, wie Colin Sterne überzeugend dargelegt hat („The Quotations in Charles Ives’s Second Symphony“, in Music and Letters 52, 1971, S. 39 – 45, vor allem S. 43). So ist eine ganz eigenartige melancholische Melodie entstanden, die später noch einmal grandios im 4. Satz Lento maestoso erscheint.
Tonbeispiel 6 Lento maestoso
Was folgt daraus für die Frage, wie sich diese Melodie zu der anderen verhält? Vielleicht lässt es sich so formulieren: Jede Melodie hat ihren eigenen Ursprung, ihre eigene Entstehungsgeschichte. Im Ergebnis sind sie sich ähnlich - nicht nur im Notenbild, sondern auch durchaus wahrnehmbar in ihrem musikalischen Charakter. Allerdings findet die Melodie bei Ives alsbald ihren Endpunkt, indem sie zum Anfangston zurückkehrt. In dem Lied von Petzold ist es anders. Es orientiert sich an der traditionellen Form des Kirchenliedes. Hier kann nach dem Beginn, dem sogenannten "Aufgesang", die Melodie noch nicht zu Ende sein; es muss erst noch in die Höhe gehen, es muss ein "Abgesang" erfolgen, ehe der letzte Ton erklingt.
Wenn Sie die ganze Melodie mit einem vierstimmigen Tonsatz als Manuskript sehen und auf YouTube anhören wollen, klicken Sie hier.
Charles Ives hat seine Melodie 1902 in Anlehnung an eine ältere gefunden. Johannes Petzold hat seine Melodie zu "Die Nacht ist vorgedrungen" in einzelnen Schritten entwickelt und immer bewusster dem Text des Dichters Jochen Klepper angepasst (ausführlich dargestellt auf der Seite Die Nacht... Spurensuche). Was als Gemeinsamkeit vielleicht überraschend deutlich wird: Es war in beiden Fällen nicht ein genialer Einfall, mit dem die Töne vom Himmel ins Ohr des Komponisten fielen und von dort auf das Notenblatt gelangten. Es war vielmehr die Reaktion auf ein Anderes - auf ein schon vorhandenes älteres Lied im einen, auf einen vorhandenen, wenn auch gerade erst erschienenen Text im anderen Falle. Und es war zweitens solide Arbeit in einzelnen Schritten, anspruchsvolles musikalisches Handwerk sozusagen, auf dessen Weg und in dessen Folge dann zwei in sich stimmige und bis heute musikalisch überzeugende Ergebnisse entstanden. Erstaunlich schließlich, auf welch unterschiedlichem kulturellen Hintergrund die beiden Melodien in die Welt kamen: die eine in den USA um 1900, die andere 1938 in Deutschland.
Nachbemerkung: Im Internet (z. B. bei YouTube) finden Sie für alle genannten Kompositionen diverse Interpretationen unterschiedlicher Art und Qualität. Auf dieser Website können Sie Johannes Petzold zuhören und zusehen, wie er dieses Lied spielt: Die Nacht ist vorgedrungen, der Tag ist nicht mehr fern. Mein Dank gilt Dr. Karl Wilhelm Geck von der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek Dresden und Prof. Dr. Wolfgang Rathert, Ludwig-Maximilians-Universität München.
Christoph Petzold
Berlin, im Januar 2020