• Eine gute Liedmelodie entspricht in ihrem musikalischen Aus-druck der Aus-sage des Textes.
    Sie soll die Text-Aussage deklamatorisch unterstreichen und gefühlsmäßig vertiefen. Mindestens wird sie „offen“ sein für den Text-Inhalt. (Unter Umständen sogar für sehr unterschiedliche Inhalte: Das Passionslied EKG 54 und das Pfingstlied EKG 100 lassen sich überzeugend auf die gleiche Melodie singen, wobei ich allerdings bei 54 die Viertel und bei 100 die Halben als Grundschlag empfinde.) Keinesfalls darf die Melodie dem Sinn des Textes zuwiderlaufen. Das hier Gesagte ist eigentlich selbstverständlich, und als positive Beispiele könnten auch hier die meisten älteren und neueren Lieder des EKG angeführt werden. Ich erinnere nur an das „Aus tiefer Not…“ (phrygisch), „Lob Gott getrost mit Singen…“, „Sonne der Gerechtigkeit…“. Aber selbst die (vom EKG vermiedene) volkstümliche Melodie von „Geh aus, mein Herz…“ möchte ich als gut und dem Text angemessen bezeichnen, wenigstens bis zur Strophe 8.

    Wie wesentlich es für ein Lied als Ganzes ist, dass der Text und die Melodie eine „gute Ehe“ miteinander führen können, zeigt ein kleines Gedanken-Experiment. Vertauschen Sie bitte in ihrer Vorstellung Text und Melodie von „Erhalt uns, Herr…“ und „Der Vogelfänger bin ich ja…“! Es entstehen zwei Wort-Ton-Vermählungen, die wir als umwerfend komisch empfinden und schleunigst wieder trennen möchten. W i r  empfinden das so! Wer sind „wir“? Die Älteren, die musikalisch Gebildeten? Sollte nicht eigentlich jeder, der in unserem Kulturkreis aufgewachsen ist, ein gewisses Maß an Verständnis haben für die Sprache der Musik? In Eisenach hat die Junge Gemeinde jahrelang den Text „Ich singe dir mit Herz und Mund…“ auf eine schwermütige Blues-Melodie gesungen. Das beliebte Lied „Gottes Liebe ist wie die Sonne…“ hat eine Melodie, die nicht nur recht schwach, sondern auch ausgesprochen trübselig ist. Andererseits hat das Lied „Gott ist anders als wir denken…“ eine Melodie, zu der es besser heißen sollte „Gott ist netter als wir denken“. Und in Verbindung mit der gewichtigen Aufforderung „Lasst uns miteinander singen, beten, loben den Herrn“ wirkt die trivial-lustige (wohl aus Ungarn stammende) Kanonmelodie doch recht läppisch. Diese Beispiele aus der der Praxis kirchlichen Singens sind zwar nicht so grotesk wie das obige Gedankenexperiment, aber sie liegen genau in dieser Richtung. Man könnte eine große Anzahl neuer Lieder nennen, bei denen man den Eindruck hat, dass den Autoren das Gespür für die inneren Beziehungen zwischen Wort und Ton schlichtweg fehlt.

    Es ist eine echte Frage: Haben wir es hier nur mit einem Generationenproblem zu tun? Oder mit einem Wandel des musikalischen Verständnisses? Oder mit einem durch die Massenmedien geförderten Verfall der musikalischen Erlebnisfähigkeit überhaupt? Generationsproblem: Vordergründig stimmt das auf jeden Fall. Wandel des Verständnisses: auch ein wenig. Denn durch die stärkere Berührung mit fremder, besonders osteuropäischer Volksmusik haben wir gelernt, auch Moll- und „kirchentonartliche“ Melodien anders zu erleben als nur „traurig“. Aber Verfall des Sinnes musikalischer Ausdruckswerte: das scheint mir doch die entscheidende Rolle zu spielen. Wer ein Mozart-Menuett als langweilig, aber irgendwelchen Beat als „fetzig“ empfindet, dem fehlt etwas: große Bereiche seelischen Erlebens bleiben ihm verschlossen. Muss die Kirche diesem Verfall Vorschub leisten, „um der Liebe willen“? Muss sie sich dem Massengeschmack beugen, indem sie kritiklos singen und drucken lässt, was „gefällt“, ganz gleich, ob es nach Text und Musik Qualität hat oder nicht? Ganz zu schweigen von dem geistlichen „Gehalt“ vieler dieser Lieder! Aber wer von Kitsch spricht, läuft Gefahr, gesteinigt zu werden. Man stelle sich Bilder an den Wänden oder auf den Altären neuerer Kirchen vor von dem künstlerischen Niveau dessen, was da oftmals gesungen wird.

    Der Junge-Gemeinde-Teil des Thüringer Kirchenblattes „Glaube und Heimat“ bringt in seiner Nr. 22/1983 einen Aufsatz von Theo Lehmann „Vom Kirchenlied zur Jazzmusik“. Es geht um das Lied „O when the saints go marching in“, das englisch und deutsch mit Melodie vollständig abgedruckt ist. Dazu schreibt der Verfasser u. a.: „Was dieses Lied vor allem zum Publikumserfolg machte, ist seine überschäumende Fröhlichkeit, strahlende Hoffnung und die im wahrsten Sinne mitreißende Freude, die aus jedem Ton quillt.“ „Wir leben auf dieser Erde, um in den Himmel zu kommen. Ist das auch dein Ziel? Möchtest du auch bei denen sein, die in Gottes Reich einziehen dürfen? Ich wünsche es dir! Und ich denke mir: Wenn du Sehnsucht hast, am Ende deines Lebens für immer ganz bei Gott zu sein, dann wird dir dieses Lied genauso gut gefallen wie mir und vielen anderen Menschen auf unserer Erde. Dann hast du sicher Lust mitzusingen: When the saints go marching in.“ – Wenn man nicht sehr boshaft werden will, verzichtet man am besten auf jeglichen Kommentar.[1]

    Text und Melodie sollten aber nicht nur inhaltlich aufeinander bezogen sein. Auch die musikalische Deklamation sollte einigermaßen stimmen, das heißt: Übereinstimmung der sprachlichen Schwerpunkte mit den musikalischen; sinntragend, inhaltreiche Worte in entsprechenden rhythmischen Notenwerten; rhythmische Beachtung der Beziehung von betonten und unbetonten Silben („Wir haben sein Versprechä-n…“); textfreundlicher und nicht textfeindlicher Gebrauch von Synkopen („…denn er tut Wunder“, „Wir bitten, Herr, um deinen Geist…“)