Späte Wahrheit oder Das Schweigen meines Vaters
Johannes Petzold (1912 – 1985)

Er hat mit mir nie darüber gesprochen, auch nicht mit meinen beiden Brüdern. In seinem Lebensrückblick vor der Familie anlässlich des 70sten Geburtstages kam es nicht vor. Nach seinem Tod 1985 deutete es unsere Mutter an: Johannes Petzold ist zunächst SA-Mann und dann Mitglied der NSDAP gewesen.

Einige Dokumente darüber hatte er aufbewahrt: einen Antrag auf Rehabilitierung aus dem Jahre 1946 mit zahlreichen entlastenden Zeugnissen von Freunden, einen Lebenslauf für das Landeskirchenamt in Thüringen von 1964, in dem er seine Parteizugehörigkeit erwähnt hatte, und die Mitgliedskarte mit der Nummer 5.816.055. Sie kamen etwa 15 Jahre nach seinem Tod in meine Hände, während ich mich immer noch intensiv mit seinem musikalischen Nachlass, aber kaum mit seiner Biographie beschäftigte. Im Jahre 2009 stellte ich sein Werkverzeichnis ins Internet - www.johannespetzold.klingendekette.de - und fügte wenig später einen „Lebenslauf in Daten, Selbstzeugnissen und Dokumenten“ hinzu. Dort sind die Tatsachen zusammen mit seinen eigenen kommentierenden Äußerungen nachzulesen.

Es schmerzt mich, dass nun ausgerechnet im Jahre seines einhundertsten Geburtstages von diesen Tatsachen geredet werden muss. Ich halte es trotzdem für notwendig. Der unscheinbare Satz in der ersten Fassung der Wikipedia-Biographie „Nach dem Studium arbeitete er als Volksschullehrer in kleinen Dörfern des Vogtlandes und Erzgebirges“ oder dessen noch kürzere Varianten in den Anhängen der Gesangbücher genügen nicht. Sie müssen ergänzt werden. Dieser Zeitraum im Leben meines Vaters bekommt nun ein anderes, größeres Gewicht. Im Bösen wie im Guten. Ich will es so beschreiben: Diese frühen Jahre waren furchtbar - und sie waren zugleich überaus fruchtbar.

Furchtbar waren sie im Blick auf seine aus heutiger Sicht unbegreiflichen Entscheidungen, deutsch-nationalen, bzw. nationalsozialistischen Organisationen beizutreten: gleich bei Studienbeginn dem „Neuen Sächsischen Lehrerverein“, von dem er 1933 offenbar in den „Nationalsozialistischen Lehrerbund“ übernommen wurde, dann der SA, und schließlich der NSDAP. Zu verstehen ist das, wenn überhaupt, nur aus dem Umstand heraus, dass er aus finanziellen Gründen Volksschullehrer werden musste, und nicht Musiker werden konnte, wie es sein sehnlichster Wunsch war. Als Lehrer stand er den staatlichen Einrichtungen näher als in anderen Berufen. Er war von diesen abhängig. So meinte er, sich durch entsprechende Zugehörigkeiten absichern zu können, ohne sich deren Ideologie unterwerfen zu müssen.

Fruchtbar aber waren jene Jahre insofern, als der Pädagogik-Student und junge Volksschullehrer nun doch sogleich seine musikalischen Fähigkeiten entfaltete – und die lagen nicht im Konzertieren, sondern im Komponieren. Am Anfang standen neben einigen Sololiedern vor allem Volksliedbearbeitungen, dem Credo der Singbewegung entsprechend, über die er eine seiner beiden Examensarbeiten geschrieben hatte und deren Überzeugungen er teilte. Singfahrten und Singwochen führten ihn in das praktische Musizieren mit Gruppen ein. In seiner anfangs erwähnten Rede meinte er, es sei „nicht Ehrgeiz“ gewesen, der ihn „zum Melodien- und Chorsatzschreiber werden ließ, sondern der ‚Bedarf‘“.

Der „Bedarf“ muss groß gewesen sein in jenen Jahren, denn viele Gemeindelieder und Chorsätze folgten. Von den heute noch gesungenen nenne ich zwei: „Gelobt sei deine Treu“ nach einem Text von Gerhard Fritzsche (1937; in vielen Regionalteilen des EG enthalten) und das Lied, das ihn vor allem bekannt gemacht hat: „Die Nacht ist vorgedrungen“ (1938 entstanden, 1939 veröffentlicht; EG 16).

Unter diesen Kompositionen waren auch solche, von denen er später merkwürdigerweise glaubte, sie entstammten der Zeit nach dem Krieg. So ist die Melodie zu Jochen Kleppers Tauflied „Gott Vater, du hast deinen Namen“ (EG 208) schon 1941, nicht erst 1948 entstanden. Und der Kanon „Gott, weil er groß ist“ (EG 411) stammt aus dem Jahr 1942 (nicht 1946). Veröffentlicht wurden beide zuerst in der kleinen, handgefertigten und wohl auch nur unter der Hand verbreiteten Reihe „Lieder einer jungen Gemeinde“, die Samuel Rothenberg herausgab. Ich fand sie im Nachlass meines Vaters. Wie kam es, dass er diese eindrucksvollen Liedblätter aus den Kriegsjahren, in denen er mit Beiträgen stark vertreten war, vergessen konnte? Wollte er sich nicht an diese Zeit erinnern? „Von der bösen Zeit will ich nicht sprechen“, meinte er in jener Rede drei Jahre vor seinem Tod.

Es war eine ausgesprochen komplizierte, aber auch produktive Zeit, das Jahrzehnt zwischen dem Beginn des Studiums 1932 und dem krankheitsbedingten Ende seines Lehrerdaseins im März 1942. In diese Zeit fällt auch die Eheschließung mit Hiltrud Schaale (26.3.1940), einer Gemeindehelferin, die - wie die meisten seiner Freunde - zur „Bekennenden Kirche“ gehörte.

Gleichzeitig mit dem Lehrerberuf endete 1942 seine Zeit in der SA. „Weil er“ – so steht es in seiner damaligen Personalakte - „kirchliche Propaganda in der Schule durchgeführt hat und mit den ‚Deutschen Christen‘ nichts gemein haben wollte“, wurde er angegriffen und angezeigt, entschied sich zum Austritt aus der SA und wurde daraufhin „wegen Krankheit“ entlassen.

Warum er aber im gleichen Jahr, in dem er Kleppers „Kyrie“ kennenlernte und – von den Texten im Herzen tief berührt - sofort Melodien zu einigen Gedichten erfand, der NSDAP beitrat (Eintritt rückwirkend zum 1.5.1937, datiert vom 15.6.1938) und ihr bis zum Kriegsende angehörte, das ist uns Späteren unverständlich. Es muss wohl sein Geheimnis bleiben. Oder doch nicht? Ein halbes Jahr vor seinem Tod formulierte und komponierte er im Krankenhaus seine eigene Version des 139sten Psalms: „Besser als ich mich kenne, kennst Du mich, Gott. Näher als ich mir selbst bin, bist du mir, Herr.“

Christoph Petzold, im Mai 2012

Veröffentlicht in der Zeitschrift Forum Kirchenmusik 5/2012, S. 17/18

 

Kategorie: Leben