Musik ist eine gesteigerte Lebensäußerung. Sie sagt aus, aber es fehlt ihr die begriffliche Bestimmtheit; sie bildet ab, aber sie tut es in dem flüchtigen Material der Töne. Trotz dieser Begrenzungen bietet sie Möglichkeiten zu höchsten schöpferischen Leistungen und zu tiefen Wirkungen auf den Menschen.

Es erschwert das Gespräch über Musik außerordentlich, dass das Organ für ihre ganz besondere Ausdrucksweise immer mehr verkümmert. Einem Überangebot an Musik steht gegenüber eine zunehmende Verarmung des musikalischen Erlebens. Das gilt auch von der Musik in der Kirche. Wir tun deshalb gut daran, die Frage nach der Verkündigung in der Musik oder durch die Musik nicht zu vordergründig zu stellen. Wir müssen uns darauf besinnen, worum es eigentlich geht beim „Singen und Spielen“ der Gemeinde.

Die Christen aller Zeiten waren und sind Menschen. Musik aber gehört zum Menschsein; das Tier kennt keine Musik – und wenn es der Gesang der Nachtigall wäre! Musik ist weder ausschließlich zu definieren als „Gabe Gottes“, noch als bloße Schöpfung des Menschen. Sie ist, wie alle Kultur, etwas, was der Mensch aus Naturgegebenem gemacht hat, zu seinem Nutzen und zu seiner Freude oder auch zu seinem Schaden. (Sprache, Technik und Kunst stehen in dieser Hinsicht nahe beieinander!) Das  n e u e  Leben nun, um das es in der Kirche geht, steht nicht im Gegensatz zu dem, das durch die Schöpfung gegeben ist; es ist seine Vollendung. Musik in der Kirche: das ist gesteigerte Lebensäußerung auch hier, und zwar des „neuen Lebens“, eines Lebens, das den geistlichen  u n d  den natürlichen Bereich umfasst. So  i s t  Musik in der Kirche 
L o b p r e i s  - des Schöpfers und des Erlösers und des lebenschaffenden Geistes – und sie  i s t  gleichzeitig  V e r k ü n d i g u n g, wenn sie wirklich Kirchenmusik ist. Sie ist es funktional, einfach durch ihr Dasein, und sie kann es darüber hinaus auch intentional sein: verbunden mit und getragen von der Absicht zu verkündigen.

Wir müssen hier eine Überlegung einschalten über das Verhältnis von Sprache und Musik. Denn in unserer kirchlichen Musik haben wir es mit einem Zusammenwirken beider Ausdrucksmittel zu tun. Wir stellen zunächst fest, dass die Uneinheitlichkeit unserer Musikkultur sich im Bereich der Sprache widerspiegelt. Der klassischen Tonsprache entspricht die Sprache der klassischen Dichtung (im weitesten Sinne), den Ausdrucksmitteln der modernen Kunstmusik entspricht die Sprache der modernen Dichtung (ebenso vielfältig wie sie – und oft noch schwerer verständlich als jene). Der Konsum-Musik mit ihrer Armut an Ausdrucksmitteln und ihrer Schablonenhaftigkeit entspricht die moderne Alltagssprache.

Es sind nun sehr verschiedenartige Verknüpfungen von Wort und Musik im Raum der Kirche heute anzutreffen. Neben der klassischen Kirchenmusik (einschließlich Gemeindegesang) mit „altem“ Wort und „altem“ Ton gibt es anspruchsvolle moderne Kirchenmusik, die mit dem alten Bibelwort verbunden ist. Aber es gibt auch fromme „moderne“ Schlagermusik, die sich textlich der „Sprache Kanaans“ bedient. Meist sind die Texte dieser neuen Liedversuche eine Mischung aus dem erbaulichen Wortschatz vergangener Jahrzehnte und dem Straßendeutsch unserer Zeit. Selten sind neue Ver-dichtungen der christlichen Botschaft (wozu eben auch eine intensive Bemühung um den Gehalt nötig wäre, nicht nur um die Form). Deshalb greift der schaffende Kirchenmusiker doch immer wieder zum Bibeltext, der weniger antiquiert wirkt als die meisten Gesangbuchtexte und kräftiger ist als die Mehrzahl der zeitgenössischen geistlichen Gedichte. Sehr zu beachten sind in diesem Zusammenhang die Versuche neuer Bibel-Übertragungen, besonders die von J. Zink. Es stünde besser um die Kirchenmusik in unserer Zeit (sowohl um die Kunstmusik als auch um den Gemeindegesang), wenn es eine christliche Dichtung gäbe, die neu und dabei doch gemeindenah ist.

Aber wir fragen noch weiter zurück nach dem Verhältnis von  W o r t  und  T o n. Wir können es auf zwei Ebenen betrachten:

  1. Wort und Ton im engsten Sinne: Hier geht es um die primären Beziehungen zwischen Sprechen und Singen, also etwa um das Verhältnis zwischen der Wortbetonung und dem Sprechrhythmus einerseits und der rhythmisch-melodischen Tongestalt andererseits, - ein wichtiger Maßstab zur Beurteilung von Liedern, aber nicht der einzige.
  2. Wort und Ton im weiteren Sinne: Beziehungen zwischen dem Sinngehalt eines Textes und dem Ausdrucksgehalt der mit ihm verknüpften Musik. Diese Beziehung zu erfassen setzt allerdings voraus, dass man der Musik – von der Sinfonie bis zur kleinsten musikalischen Motiv – einen Ausdrucksgehalt zuerkennt. Ihn zu leugnen oder völlig zu relativieren heißt die Musik überhaupt als etwas spezifisch Menschliches zu leugnen und sie zu degradieren zur Geräuschkulisse oder zur belanglosen Verpackung für irgendwelche Inhalte: der Werbung für ein Waschmittel, eine Weltanschauung oder einen Glauben. Diese (tiefere) Beziehung von sprachlichem und musikalischem I n h a l t  zueinander ist ein besonders wichtiges Kriterium vokaler oder textbezogener Musik.

Wir sagten: Kirchenmusik ist Verkündigung, wenn sie wirkliche Kirchenmusik ist. Diese Einschränkung wird damit zur eigentlichen Frage. Wann können wir von Kirchenmusik sprechen? Dabei sollen alle Bereiche der Musik in der Gemeinde im Blickfeld bleiben, vom Oratorium bis zum kirchlichen Jazz, von der Gregorianik bis zum Song. Es sei mir gestattet, die Antwort in einige Sätze zusammenzufassen, die nicht als Postulate gemeint sind, wohl aber als eine gewisse Grundlage für das oft so ins Uferlose gehende Gespräch über Fragen der Kirchenmusik, besonders der Versuche neuer Lieder.

  1. Die i n h a l t l i c h e  A u s s a g e  soll dem Geist des Evangeliums entsprechen. Dabei ist vor allem an den Text gedacht, aber durchaus auch an den (freilich viel weniger greifbaren) musikalischen Gehalt.
  2. Sowohl die sprachliche wie auch die musikalische F o r m  sollen dem Inhalt  a n g e m e s s e n  sein, d. h. mindestens, dass sie „gut“ sein sollen, im Sinne eines handwerklich-künstlerischen Qualitätsbegriffes. Sie können differenziert sein oder auch schlicht, aber sie dürfen nicht schlecht sein.
  3. Sprachlicher und musikalischer Ausdruck müssen a u f e i n a n d e r   a b g e s t i m m t  Ein guter Text und eine gute Melodie machen noch kein gutes Lied. (Man vertausche probeweise Text und Melodie von „Der Vogelfänger bin ich ja“ und „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“!) Dieser gegenseitige Bezug muss stimmen, sowohl auf der Ebene des Sinn- und Ausdrucksgehaltes, als auch auf der der sprachlichen und musikalischen Deklamation.
  4. Musik ist niemals nur eine Angelegenheit von Noten und Tönen und allenfalls noch Worten. Sie setzt lebendige Menschen voraus, die sie singend und spielend vollziehen. Es ist eine eigentlich selbstverständliche Voraussetzung für alle Musik in der Kirche, dass die, die sie ausüben, ihren Inhalt bejahen. Erst so wird Kirchenmusik zum Z e u g n i s, das heißt aber zur Verkündigung.

Ist unsere Kirchenmusik Verkündigung? Sind unsere Oratorien-Aufführungen, unsere Abendmusiken, unser Singen im Chor und in der Gemeinde, unser Singen mit der Jugend, unser Orgelspielen, unser Blasen und unser sonstiges Musizieren in der Kirche Verkündigung? Das heißt: Werden Glaubende gestärkt und Fernerstehende zum Aufhorchen und Hinhören veranlasst?

Unsere Selbstprüfung und Besinnung sollte sich auf vier Schwerpunkte richten.

  1. G e m e i n d e g e s a n g im weitesten Sinne.
    Wie kann unser Singen von innen her belebt werden? Welche Lieder unseres Gesangbuches sind unvermindert „frisch und lebendig“ (wenn sie nur richtig gesungen werden)? Welche sind nicht so, dass sich der Christ von heute noch mit ihnen identifizieren kann? (Sorgfältige Lied- und Strophenauswahl!) Brauchen wir ein neues geistliches Volkslied, ein neues Jugendlied? Wir brauchen es sicherlich! Aber wie weit dürfen „Zugeständnisse“ auf diesem Gebiet gehen? Wie kann man die Jugend überhaupt zum Singen bringen – und nicht nur zum Zuhören bei gitarrenbegleitetem Sologesang und zum Einstimmen in Kehrreime? (Bei der großen Abschlussversammlung des Landesjugendtages hätte es das vorzügliche Schlusslied des Spieles „Gott schickt in die Welt“ verdient, dass es schon vorher in den Jungen Gemeinden gelernt worden wäre. Der läppische Kanon „Lasst uns miteinander“ klappte gut: ein Stück, bei dem die Töne sich lustig zu machen scheinen über den frommen Text, ein treffliches Beispiel von „Unangemessenheit“ in jeder Hinsicht! Sollten nicht die, die das Ohr und das Herz der Jugend haben, ihr getrost ein bisschen  m e h r  zumuten? Diese Frage möchte ich auch zur Veranstaltung in der Nicolaikirche stellen. – Eine gelungene Karikatur allzu unbekümmerter christlicher Schlager-Produktion bot die Erfurter Spielschar im Rahmen ihres kirchlichen Kabaretts „Und lass uns ruhig schlafen“.)
  2. Die Arbeit mit dem C h o r.
    Der Chor muss wissen, was er singt. (Und die Bläser müssen wissen, was sie blasen!) Es darf nicht vorkommen, dass ein Chor ein Stück in lateinischer Sprache singt und nach der Aufführung noch nicht weiß, was er da eigentlich gesungen hat. Aber auch deutsche Texte bedürfen oft einer Erklärung. Der Chor muss Hinweise bekommen für das Verständnis des Textes  u n d  der Musik – und ihrer gegenseitigen Beziehung. Er muss wissen, warum er singt (Bewusstmachen der Einordnung des Chordienstes in den Gottesdienst). Die selbstverständliche Bemühung um gute Aussprache muss getragen sein von innerem Verstehen der Stücke und dem freudigen Bejahen der Aufgabe des Chores. Ein Chor ist nicht nur das vokale Instrument seines Leiters (oder, samt diesem, die musikalische Bedientenschar seines Pfarrers). Und noch eins: Nicht die Lautstärke überzeugt! Worum es den Männern der Singbewegung ging, wenn sie immer wieder von der rechten „Haltung“ der Singenden sprachen, wird leider heute an vielen Gegenbeispielen deutlich.
  3. Die A b e n d m u s i k.
    Es genügt nicht, dass Schriftlesung und Gebet mit vorkommen im Programm als „Einlage“ (als Gegenstück zu den musikalischen Einlagen des Chores im Gottesdienst). Eine Abendmusik möchte als Ganzes geplant sein und sollte, wenn irgend möglich, unter einem einheitlichen, den Mitwirkenden bekannten und der Gemeinde verständlich werdenden Leitgedanken stehen. Schwierigkeiten betr. Druckgenehmigung für Programme sollten Anlass sein, die Gemeinde umso besser durch das gesprochene Wort mit hineinzunehmen in das kirchenmusikalische Geschehen. Kurze, aber gut überlegte Hinweise bei der Ansage können den Kontakt zwischen Gemeinde und Musizierenden sehr fördern. – Organisten und Pfarrer sollten sich Gedanken machen, wie sie die Orgelmusik einer breiteren Gemeinde nahebringen könnten. – Der mitsingende oder mitspielende Pfarrer und der auch einmal das Wort ergreifende Kantor könnten viel dazu beitragen, dass die Kirchenmusik ihre Aufgabe im Ganzen des gemeindlichen Lebens erfüllt.
  4. Der G o t t e s d i e n s t.
    Es ist für uns Lutheraner eine Selbstverständlichkeit, dass der Gottesdienst als Ganzes verstanden werden will und nicht als eine Predigt mit musikalisch-liturgischer Umrahmung. Wie steht es mit der praktischen Verwirklichung? Wo bereiten Pfarrer und Kirchenmusiker gemeinsam den Gottesdienst vor? Wozu erhält ein Kirchenmusiker seine hymnologische Ausbildung, wenn er dann doch nur Liederzettel-Empfänger ist (und oft auch gar nicht mehr sein will; „seine“ Sache ist ja dann die Abendmusik!). Ich möchte etwas Gewagtes aussprechen: Ein Gottesdienst muss eine Art „Gesamtkunstwerk“ sein (Streben nach Einheitlichkeit des „Stiles“). Jede Kleinigkeit, jede Choral-Einleitung, jede Modulation will liebevoll ausgeführt und in das Ganze eingefügt sein. Und erst recht natürlich jedes Gemeinde- und Chorlied, und nicht zuletzt auch die Begleitung des Gemeindegesanges! Welches Missverhältnis ist da oft zu erleben zwischen dem mittelmäßigen, lieb- und stillosen Spielen des Organisten im Gottesdienst und seinem virtuosen Nachspiel! – Die in Jahrtausenden gewachsene „Kunstform“ des christlichen Gottesdienstes schließt Versuche in Richtung auf neue Formen und neue Stile nicht aus. Da sollte man getrost weitherzig sein. Die Kirche ist – glücklicherweise – mit dem Barockstil nicht verheiratet. Aber wie dies auch geschehe: Wer Neues schaffen will, muss ich seiner Verantwortung vor Gott und Menschen bewusst sein.

Johannes Petzold (Entstehungsjahr und -anlass des als Typoskript vorhandenen Vortrages sind unbekannt)

Kategorie: Texte zur Musik